19.02.07

Bastian Sick

Lieder voller Poesie

Jetzt kommt's raus: In der CD-Sammlung von Zwiebelfisch-Autor Bastian Sick befindet sich nicht ein einziges Bratschenkonzert. Dafür 50 CDs von Udo Jürgens. 51, um genau zu sein, denn seit Freitag gibt es eine mehr. Die hat der Sick selbst zusammengestellt.

Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Elvis-Fan. Oder ein ganz großer Pavarotti-Verehrer. Oder der größte Bob-Dylan-Fan überhaupt. Und da klingelt plötzlich eines Tages bei Ihnen das Telefon, und jemand von einer großen Plattenfirma meldet sich und fragt, ob Sie nicht Lust hätten, eine CD mit Ihrer ganz persönlichen Liederauswahl Ihres Lieblingskünstlers herauszubringen! Würden Sie auch nur eine Sekunde zögern, ehe Sie begeistert zusagen? Natürlich nicht. Von einer solchen Gelegenheit träumt schließlich jeder Fan.

Mir ist so etwas passiert. Nicht mit Elvis, auch nicht mit Pavarotti oder Bob Dylan, sondern mit Udo Jürgens. Weil ich den schon seit meinem siebten Lebensjahr höre und immer toll gefunden habe. Das habe ich irgendwann einmal in einem Interview erwähnt, und prompt erhielt ich einen Anruf von der Sony-BMG, der Plattenfirma, mit der Udo Jürgens »Vertrag hat«, um es mal sportlich auszudrücken.

Die Auswahl gestaltete sich dann allerdings schwieriger als im ersten Moment gedacht, denn ich habe mindestens 100 Lieblingstitel von Udo Jürgens. So viele passen aber nicht auf eine CD, ich musste mich also beschränken. Die bekannten großen Erfolge wie »Aber bitte mit Sahne« oder »Griechischer Wein« habe ich dabei bewusst außen vor gelassen, denn mir ging es darum, den Künstler Udo Jürgens von einer anderen, weniger bekannten und von der Kritik stets verkannten Seite zu präsentieren: als klassischen Chansonnier, als großen Mann der leisen Töne und der poetischen Worte. Als jemanden, der die Sprache ernst nimmt und es daher mit ihr auch genau nimmt. So fiel meine Wahl auf unbekanntere Stücke wie beispielsweise »Wärst du nicht du«:

»Nicht weniger als 19 Konjunktivformen in einem schlichten Liebeslied von knapp 3 Minuten Dauer, und dabei nicht eine einzige Umschreibung mit ›würde‹, sondern ausschließlich Konjunktiv II in Reinform – das sprengt jede Vorstellung dessen, was einen sogenannten Schlager ausmacht. Und trotz dieses grammatischen Feuerwerks, bei dem eine Irrealis-Rakete nach der anderen in den Himmel steigt, bleibt der Text klar und erschließt sich auch dem in Sachen Konjunktiv weniger geübten Hörer.«

Besonders freut es mich, dass ich in meiner Auswahl vier Titel unterbringen konnte, die bislang noch niemals auf CD erschienen sind, wie zum Beispiel die Originalversion von »Merci Chérie« aus dem Jahre 1966 – die mit dem Bolero-Rhythmus und den schwelgenden Streichern. Bislang gab es auf CD nur die Neuaufnahme von 1972. Nun ist dieser Klassiker des deutschen Chansons wieder einem großen Publikum zugänglich.

Den Zauber in seiner Musik erschafft Udo Jürgens selbst. Für die Poesie in seinen Texten zeichnet eine Garde der besten deutschsprachigen Textdichter verantwortlich. Einige namhafte Künstler haben für Udo Jürgens getextet, wie Reinhard Mey, Alexandra, Joachim Fuchsberger und Hans Hellmut Kirst, der Autor der »08/15«-Romane. Doch die meisten seiner Textdichter haben nur in Fachkreisen einen Namen. Am bekanntesten dürfte noch Michael Kunze sein, jener großartige Poet, dem wir die kongenialen Übersetzungen zahlreicher Musicals wie »Cats«, »Das Phantom der Oper«, »Der König der Löwen« und die deutschen Songtexte des Abba-Musicals »Mamma Mia« verdanken. Von Walter Brandin, Joachim Relin, Eckart Hachfeld, Irma Holder, Friedhelm Lehmann, Thomas Christen und Wolfgang Hofer indes haben die wenigsten je gehört – dabei haben wir viel von ihnen zu hören bekommen, denn sie alle haben mit ihren Texten deutsche Musikgeschichte geschrieben.

Im Januar habe ich Udo Jürgens dann auch persönlich kennen lernen dürfen. Das heißt: Ich kannte ich ihn ja schon längst, aber er mich eben noch nicht. Obwohl wir uns schon ein paarmal die Hand gegeben hatten – nach Konzerten. Ich besitze sogar ein Programmheft, auf das Udo Jürgens geschrieben hat: »Für Bastian – Udo«. Das war 1991. Freilich konnte er damals nicht ahnen, wer dieser Bastian einmal werden würde. Ich selbst ahnte es am allerwenigsten.

Gehen wir noch weiter zurück in die Vergangenheit, ins Jahr 1971. Da hockt ein sechsjähriger Junge vor dem topmodernen Schallplattenspieler Marke Braun SK61 (der sogenannte »Schneewittchensarg«) im Wohnzimmer seiner Eltern und hört Musik. Stunde um Stunde spielt er immer wieder dieselbe Platte: Udo Jürgens – Seine größten Erfolge. Darauf befinden sich Stücke wie »Merci Chérie«, »Warum nur, warum« und »Siebzehn Jahr, blondes Haar«. Da es zu dem Gerät keine Kopfhörer gibt, muss die ganze Familie mithören. Bald droht dem Jungen ein Plattenspieler-Verbot. Doch da ihm bereits »Schweinchen Dick« verboten worden war, lässt man ihn weiterhin Udo Jürgens hören.

Irgendwann galt es als »total uncool«, deutschsprachige Musik zu hören. Neue deutsche Welle ging ja noch, aber für deutschen Schlager wurde man in der Schule ausgelacht. Ich konnte aber weder an Nena etwas finden noch an Rock, Rap oder Punk. Die Protest- und Krawallmusik der siebziger und achtziger Jahre war nichts für mich. Ich vermisste darin die Schönheit, die Poesie, das Streben nach dem Reinen, nach Perfektion. So hörte ich auch weiterhin meine Chanson- und Schlagerplatten.

Einmal passierte es, dass ich nach dem Kauf einer Schallplatte einer Mitschülerin begegnete. Sie wollte wissen, was ich denn gekauft habe. Vor Scham sterbend, gewährte ich ihr einen Blick in die Tüte. Sie rief: »Oh, die neue von Udo Jürgens! Leihst du mir die?« Ich war also nicht allein.

Als die Presse von dem CD-Projekt erfuhr, wurde ich tatsächlich von mehreren Journalisten gefragt, ob meine Interpretationen der Udo-Jürgens-Lieder ironisch zu verstehen seien. »Warum denn ironisch?«, fragte ich überrascht. »Na ja«, lautete die Antwort dann, »Sie, der deutsche Sprachpapst, und Udo Jürgens, der König der leichten Unterhaltung ... wie passt das denn zusammen?« Da waren sie wieder, die Majestonyme[*]: Papst und König. Und ich musste mich fragen, welch ein Bild die Kollegen eigentlich von mir haben. In ihren Augen scheint jemand, der sich mit rätselhaften Dingen wie »Kongruenz im Kasus« beschäftigt, wohl am liebsten Hölderlin-Gedichte zu lesen und Klaviersonaten zu hören. Und nun das: Der Retter des Genitivs hört Schlager!

Wobei es zu unterscheiden gilt; denn Schlager ist nicht gleich Schlager. Es gibt gute und schlechte deutsche Unterhaltungsmusik. Wir reden hier nicht über Wolfgang Petry oder Andrea Berg. Ich bin ein Freund des Kunstschlagers, der Unterhaltung mit Haltung, wie sie in den sechziger und siebziger Jahren in Deutschland noch selbstverständlich war – und heute leider immer seltener zu finden ist. Udo Jürgens hatte immer Stil, und den hat er sich bewahrt. Bei all seinen Konzerten trägt er immer einen Anzug – wie Frank Sinatra. Auch wenn er sich anschließend den obligatorischen Bademantel überzieht, den Anzug behält er drunter. Das hat Format! Und das ist es, was ich bei vielen anderen schmerzlich vermisse: Da fehlt das Würdevolle, das Erhabene, die Eleganz.

Das Feuilleton hat Udo Jürgens nicht immer sehr respektvoll behandelt. Viele Kulturkritiker haben ihn über Jahrzehnte verkannt und zum »Schlagerfuzzi« abgestempelt. Wer nur »Aber bitte mit Sahne« kennt, der kennt beileibe nicht den ganzen Udo Jürgens. Langsam dämmerte den Kritikern, dass sie da wohl irgendwas übersehen haben mussten, und seit Neuestem widmen überregionale Tageszeitungen wie die »Süddeutsche« oder die »FAZ« Udo Jürgens große Berichte und bringen jubelnde Konzertkritiken.

Er fühle sich durch meine Kommentare geehrt, sagte Udo Jürgens am vergangenen Sonntag auf unserer gemeinsamen Pressekonferenz in Berlin. Das hat mich gerührt. Ein Kritiker schrieb: »Sicks Interpretationen der Jürgens'schen Lieder braucht kein Mensch – gerade das macht sie so unentbehrlich.« Das hat mich gefreut. Sympathischer kann man's gar nicht ausdrücken. Und es ist ja wahr: Die Welt braucht nicht bloß Worte. Die Welt braucht mehr. Um es mit einem Lied von Udo Jürgens zu sagen: »Immer, immer wieder – die Welt braucht Lieder«.