Diese Kolumne lässt sich auch hören!

»Wie die Sprache am Rhein am Verlaufen ist« vorgetragen von Bastian Sick. Live-Aufzeichnung von Schloss Ippenburg bei Bad Essen vom 16. Juni 2005. Musik von Christian Bruhn. Nur bei kolumnen.de.
(Bitte beachten Sie unseren Rechtevorbehalt).

25.10.07

Bastian Sick

Wie die Sprache am Rhein am Verlaufen ist

Es gibt in der deutschen Sprache so manches, was es offiziell gar nicht gibt. Die sogenannte Rheinische Verlaufsform zum Beispiel. Die hat weniger mit dem Verlauf des Rheins zu tun, dafür umso mehr mit Grammatik. Vater ist das Auto am Reparieren, Mutter ist die Stube am Saugen. Und der Papst war wochenlang im Sterben am Liegen.

Meine Freundin Holly ist Amerikanerin, genauer gesagt Kalifornierin. Obwohl sie ein sehr aufgeschlossener und wissbegieriger Mensch ist und seit nunmehr fünf Jahren in Deutschland lebt, hat sie mit der deutschen Sprache noch immer ihre liebe Not. »Deutsch ist so ... complicated«, schimpft sie, »andauernd man hat es mit Ausnahmen zu tun.« – »Ich glaube nicht, dass es irgendeine Sprache gibt, die ohne Ausnahmen auskommt«, erwidere ich, »dafür sind die meisten Sprachen einfach zu alt und haben schon zu viele Entwicklungen durchgemacht.« – »Es ist aber eine Tatsache, dass die deutsche Sprache nicht wirklich praktisch ist«, sagt Holly, »eure Wörter sind so furchtbar lang, mit all den vielen Endungen, die Sätze hören gar nicht mehr auf, der Satzbau ist confusing, mal steht das Subjekt vorne, mal das Objekt, wer soll sich da zurechtfinden? Mark Twain hielt die deutsche Sprache für besonders unordentlich und systemlos. Er hatte Recht!« – »Es klappt doch aber schon ganz gut bei dir«, versuche ich sie zu beschwichtigen. Da fällt Holly noch etwas anderes ein: »Und weißt du, was dem Deutschen außerdem fehlt? Es hat keine continuous form!« – »Keine was?«, frage ich. »Continuous form – I'm reading a book, you are watching TV und so weiter.« – »Ach so, du meinst die Verlaufsform«, sage ich. »Genau«, sagt Holly, »die ist ungeheuer praktisch! Es ist doch ein Unterschied, ob ich sage ›I am eating fish‹ oder ›I eat fish‹. Das erste bedeutet, dass ich gerade jetzt einen Fisch verspeise; das zweite bedeutet dagegen, dass ich grundsätzlich Fisch esse, aber das kann ich auch sagen, während ich gerade einen Salat esse. Wenn man im Deutschen ausdrücken will, dass sich eine Handlung auf einen bestimmten Zeitraum bezieht, dann muss man einen Satz bilden wie ›Ich bin gerade dabei, das und das zu tun.‹ Das ist doch total umständlich! Sogar im Japanischen gibt es eine Verlaufsform, warum nicht im Deutschen?«

An dieser Stelle muss ich Widerspruch einlegen: »Dass es im Deutschen keine Verlaufsform gibt, ist nicht richtig.« Holly blickt mich erstaunt an: »Tatsächlich? Wie sieht die denn aus?« – »Nun, das kommt darauf an, es gibt nämlich mehrere Möglichkeiten, die Verlaufsform zu bilden. In der Standardsprache wird dabei nach folgendem Rezept verfahren: Man nehme eine Form von ›sein‹, dazu die Präposition ›beim‹ und den substantivierten Infinitiv, fertig ist die Verlaufsform. ›Ich bin beim Einkaufen‹, ›Mutter ist beim Geschirrspülen‹, ›Lars ist beim Arbeiten‹ und ›Alle sind beim Essen‹, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Schöner, aber seltener ist die mit ›im‹ gebildete Verlaufsform: ›Bärte sind wieder im Kommen‹, ›Ich war schon im Gehen, da rief er mich noch einmal zurück.‹« – »Ach, das ist die deutsche continuous form? Dann wird ›I'm thinking about you‹ auf Deutsch zu ›Ich bin beim Denken an dich‹?« – »Nein, die Verlaufsform bietet sich nicht für alle Verben an. Jedenfalls nicht in der standardsprachlichen Ausführung. Es gibt daneben aber noch eine umgangssprachliche, die sehr viel flexibler ist. Sie wird mit der Präposition ›am‹ gebildet.« – »Nenn mal ein Beispiel!«, bittet Holly.

»Alle sind am Jubeln, wenn Deutschland Europameister wird. Ich bin total am Verzweifeln, weil mein PC schon wieder abgestürzt ist. Wenn andere schlafen, bin ich am Arbeiten.« Holly nickt: »Stimmt, das kenne ich! ›Ich bin am Arbeiten‹, das sagen manche Leute wirklich.« – »Und wenn dich jemand fragt: ›Möchtest du noch ein Stück Kuchen?‹, dann kannst du – mit Rücksicht auf deine Hüften-Verlaufsform – antworten: ›Nein danke, ich bin gerade am Abnehmen.‹« – »Das wiederum habe ich noch nie gehört«, behauptet Holly und lacht.

Ich nenne weitere Beispiele: »Statt ›ich denke gerade nach‹ oder ›ich überlege noch‹ hört man auch sehr oft ›ich bin gerade am Nachdenken‹ oder ›ich bin noch am Überlegen‹.« – »Aber ist das richtiges Deutsch?«, fragt Holly. »Wie gesagt, es ist nicht Standard. Doch in weiten Teilen Deutschlands ist es absolut üblich. Die Regel sieht vor: ›Ich telefoniere gerade‹, und die Umgangssprache macht daraus: ›Ich bin gerade am Telefonieren‹! Wenn der Chef in Rage gerät, raunen sich die Kollegen zu: ›Der ist mal wieder voll am Durchdrehen!‹ Und wenn's so richtig Ärger gibt, dann ist ›die Kacke am Dampfen‹. Letzteres funktioniert sogar ausschließlich in der Verlaufsform. Den Ausdruck ›dann dampft die Kacke‹ gibt es nicht.«

Holly ist begeistert: »Das ist wirklich faszinierend! Warum bringen sie einem das nicht im Deutschunterricht bei? Da lernt man alle möglichen Regeln und Formen, aber dass es diese Verlaufsformen gibt, das verheimlichen sie einfach!« – »Lehrer sind angehalten, nur Hochdeutsch zu unterrichten. Für Sonderformen der Umgangssprache ist im Deutschunterricht normalerweise kein Platz. Obwohl man ein paar Kenntnisse manchmal schon brauchen kann – bei der Zeitungslektüre zum Beispiel. Gelegentlich findet man die umgangssprachliche Verlaufsform nämlich selbst in Überschriften. In der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹ konnte man lesen: ›Das Geschäftsmodell für den Smart ist am Wanken‹. Und im ›Kölner Stadt-Anzeiger‹ stand unlängst: ›Ölpreis weiter am Sinken‹. Da ist mancher Leser verständlicherweise ›am Kopfschütteln‹. In Düsseldorf und Köln allerdings wird kaum jemand Anstoß daran genommen haben. Die Rheinländer benutzen die Verlaufsform nämlich besonders gern und haben sie auf ihre Weise perfektioniert. Daher spricht man auch von der Rheinischen Verlaufsform.«

Holly kommt aus dem Staunen gar nicht mehr raus: »Die Rheinische Verlaufsform? Willst du sagen, das Rheinland hat eine eigene continuous form?« – »Genau! Das Rheinland hat den Karneval und eine eigene Verlaufsform. Nehmen wir mal den Satz ›Ich packe die Koffer‹. Das ist eine ganz normale Aussage im Präsens. In der herkömmlichen Verlaufsform wird es zu ›Ich bin am Kofferpacken‹. In der Rheinischen Verlaufsform wird es zu ›Ich bin die Koffer am Packen‹. Und ein Satz wie ›Chantal fönt sich die Haare‹ wird zu ›Dat Chantal ist sich die Haare am Fönen‹. Besonders kurios wird's mit doppeltem Infinitiv: Während Papst Johannes Paul II. auf Hochdeutsch wochenlang im Sterben lag, war der arme Mann auf Rheinisch wochenlang im Sterben am Liegen! Übrigens erscheint dieser Satz nur in der Theorie länger. Was der Rheinländer an zusätzlichen Silben in die Bildung der Verlaufsform investiert, das spart er nämlich an anderer Stelle wieder ein. So heißt es zum Beispiel: ›Wenn dat einmal am Laufen fängt, hört dat nich mehr auf.‹ Das ist dann allerdings schon Rheinisch für Fortgeschrittene.« Holly atmet tief durch: »Wow! Das ist amazing! Ich frage mich, ob Mark Twain das wohl gewusst hat?«

»Jetzt noch mal zur Übung«, sage ich. »Nehmen wir den Satz ›Tim repariert den Motor‹. Der wird in einfacher Verlaufsform zu ›Tim ist am Motorreparieren‹ – oder, elegante Variante, ›Tim ist am Reparieren des Motors‹. Und wie lautet nun die verschärfte rheinische Form?« – »Moment, warte, ich komm drauf: Tim ist den Motor am Reparieren! Right?« – »Perfekt! Damit bist du bald jeder Rheinländerin Konkurrenz am Machen!«

Diese Kolumne finden Sie – leicht variiert – auch in Bastian Sicks Bestseller »Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod – Folge 2«.