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»Schuster, bleib auf deiner Leiter« vorgetragen von Bastian Sick. Live-Aufzeichnung von Schloss Ippenburg bei Bad Essen vom 16. Juni 2005. Musik von Christian Bruhn. Nur bei kolumnen.de.
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30.12.06

Bastian Sick

Schuster, bleib auf deiner Leiter

Kennen Sie das auch? Da benutzt jemand eine bekannte Redewendung, und man wird das Gefühl nicht los: Irgendetwas stimmt da nicht. Haben Sie schon mal gehört, dass Liebe auf den Magen schlägt, dass einem etwas Unterkante Oberwasser steht und dass jemand friert wie ein Rohrspatz? Dann kennen Sie vielleicht meine Freundin Sibylle.

Meine Freundin Sibylle ist ein lieber Mensch, und sie redet sehr gern. Eigentlich ununterbrochen. Dabei hat sie eine ausgesprochene Vorliebe für bildhafte Vergleiche und klangvolle Redewendungen; allerdings trifft sie nicht jedes Mal den Hammer auf den Nagel. Den Hammer auf den Nagel? Es heißt doch wohl »den Nagel auf den Kopf«. Sie sehen schon, worauf ich hinaus will. Sibylle verwendet Ausdrücke, die in keinem Wörterbuch stehen. Man versteht die Redewendung zwar, aber man wird das Gefühl nicht los, dass irgendetwas mit ihr nicht ganz richtig ist. Mit der Redewendung, meine ich, nicht mit Sibylle.

Sibylle hat ein großes Herz, und sie mag Tiere. »Auch eine blinde Kuh findet die Spreu im Weizen«, sagt sie zum Beispiel. Und sie würde auch niemals »mit Spatzen auf Kanonen schießen«. Dafür schwimmt bei ihr ab und zu mal ein »Hecht im Ententeich«. Sibylle weiß, »wo der Hase begraben ist«, und wenn sie etwas nicht weiß, dann steht sie da »wie die Kuh vorm Himmelstor«. Sibylle macht sich nicht viel aus Fleisch, aber zu Hühnchen sagt sie nicht nein, und wenn ihr etwas ganz besonders verrückt vorkommt, dann ruft sie: »Da wird doch das Huhn in der Pfanne verrückt.« Meinen Hinweis, dass es der Hund sei, der da verrückt wird, wehrt sie entrüstet ab: Was soll denn ein Hund in der Pfanne? Das klinge doch eher nach einem chinesischen Sprichwort. Da Sibylle sich nicht besonders gut in Geografie auskennt, weiß sie nicht, wo die berühmten böhmischen Dörfer liegen. Weil ihr aber oft etwas spanisch vorkommt, sagt sie stattdessen: »Für mich ist das ein spanisches Dorf.«

Derlei Verdrehungen ziehen sich durch Sibylles Wortschatz »wie ein rotes Tuch«. Kaum ein »Fettnäppchen«, in das sie nicht schon getreten wäre. Sie kann Politiker nicht leiden, weil die meistens »mit zweischneidiger Zunge« reden. Was unsereiner nicht verknusen kann, das kann Sibylle nicht »verknausern«. Auch von anderen Männern hält Sibylle nicht viel. Wenn das Gespräch auf ihren Ex kommt, dann »sträuben sich ihr die Zehennägel«. Der brauche mal jemanden, der ihm »ordentlich die Levanten liest«, sagt sie. Jawohl, auch vor der Bibel macht Sibylle nicht Halt. Einmal ist sie so erschrocken, dass sie nach eigenen Worten »fast zur Salzsäure erstarrt« ist.

Nicht dass Sie denken, ich wollte mich über Sibylle lustig machen. Das käme mir nicht in den Sinn. Schließlich ist sie eine liebe Freundin, und wenn ich sie nicht hätte, wäre mein Leben ärmer. Auf jeden Fall gäbe es für mich weniger zu lachen. Und zu lernen. Denn Sibylle ist ausgesprochen lebensklug. Sie weiß, dass es nicht immer ratsam ist, Entscheidungen »über den Zaun zu brechen«, und für drastische Maßnahmen hat sie eine entwaffnende Rechtfertigung parat: »Der Zweck bringt die Mittel auf.« Auch Körperbehinderte kommen bei ihr besser weg als anderswo, denn »unter den Blinden« ist Sibylle zufolge »der Einbeinige König«. Und wenn alles schief geht, kann man sich auf Sibylle verlassen, denn sie hat meistens noch »einen Triumph im Ärmel«.

Viele Redewendungen enthalten Begriffe, die aus unserer Alltagssprache längst verschwunden sind. Wer weiß denn noch, was ein Scheffel ist? Sibylle jedenfalls nicht. Sie rät allen, die ihrer Meinung nach zu bescheiden sind, ihr Licht nicht »unter den Schemel« zu stellen.

Irgendwann einmal habe ich Sibylle empfohlen, sich doch lieber mit ihren eigenen Worten auszudrücken. »Sprich wörtlich, nicht sprichwörtlich«, lautete mein Rat. Sibylle erwiderte, ich solle nicht immer jedes Wort auf die Goldschale legen und mich lieber an der eigenen Nase herumführen.

Macht nix. Ich hab Sibylle trotzdem gern. »Man wird alt wie eine Kuh und lernt trotzdem nichts dazu«, sagt sie selbstironisch. Und schließlich sei die Suche nach dem passenden Ausdruck oft das reinste Waggon-Spiel. Recht hat sie. Wer könnte schon von sich behaupten, dass ihm solche Fehler nicht auch ab und zu unterliefen? Ein kleiner »Wehmutstropfen« hier, ein weiterer Fall von »Mund-zu-Mund-Propaganda« dort. Ein bisschen Sibylle steckt vermutlich in jedem von uns.

Zum Beispiel in jenem Sportreporter, der da in einem Bericht über die Formel 1 sibyllinisch, wenn nicht gar sibyllisch schrieb: »Teamchef Eddie Jordan hat Berichte dementiert, wonach sein Team erneut kurz vor dem Aus stehe – dabei hatte der Ire erst vor wenigen Tagen der Belegschaft den schwarzen Peter an die Wand gemalt.«

Diese Kolumne finden Sie – leicht variiert – auch in Bastian Sicks Bestseller »Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod – Folge 2«.