03.10.10

Holger Uhlig

Zwei Tage im Oktober

Unterschiedlicher können zwei Tage nicht sein. An einem Tag schiebt sich eine winkende Menge an den Tribünen vorbei und spült sich abends den Frust mit jeder Menge Bier von der Seele, am Nationalfeiertag der DDR. Der andere Tag ist ein Tag der Erinnerung, im Fernsehen laufen die Bilder vom Mauerfall, von glücklichen Gesichtern und der Blech- und Plastikkarawane gen Westen.

Man vergisst schnell, oder gar nicht, wie es einmal war. Das ist völlig normal. Schlechte Erinnerungen vergisst man und gute bewahrt man, so dass im Rückblick die Vergangenheit wie durch eine rosa Brille erscheint. Nun mag es ja stimmen, dass nicht alles schlecht war in der DDR, aber gut war es auch nicht. Die Vergangenheitsbewahrer irren, wenn sie glauben, dass ein bisschen westdeutsche Farbe auf die vergrauten Erinnerungen diese schöner erstrahlen ließe.

In der deutschen Verblödungsindustrie wird jedes Jahr mindestens eine Ostalgieshow aufgelegt. Dann werden Vertreter der Ehemaligen, meist einige Sportler und Schauspieler, über ihre Erfahrungen in der DDR ausgefragt. Wir erfahren dann, dass russischer Sekt gut war und die Tempolinsen nicht. Dass die Stasi in meiner Heimatstadt Gera Regimegegner mit Röntgenstrahlen bearbeitete, erfährt man nicht. Auch wird niemand eingeladen, der von seinem Partner oder Kollegen bespitzelt wurde. Oder Menschen, die unschuldig in DDR-Knästen saßen. Das ist dann doch zu real.

Andere früher vorhandene Tugenden, wie zum Beispiel die »immer und überall vorhandene Solidarität«, sind heute im westdeutschen System – angeblich – nicht mehr vorhanden. Das stimmt. Solidarität ist keine wirklich im bundesrepublikanischen Alltag vorhandene Eigenschaft. Aber war die Solidarität uneigennützig? Wer an der Quelle saß und etwas zu verteilen hatte, nutze diese Position im Regelfall auch aus. Die so viel zitierte Solidarität war also nichts anderes als ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis. In der Bundesrepublik war dieses Abhängigkeit bestenfalls nach dem Krieg notwendig, danach konnte jeder – so er denn Geld hatte – Dienstleistungen und Waren kaufen wie er wollte. Die Errungenschaft der westlichen Gesellschaft heißt Individualismus.
Aber will wirklich jemand den Kollektivgeist von Erich und Konsorten zurück? Will jemand zurück zu staatlich verordneter Gleichmacherei, die jede Eigeninitiative als kapitalistische Geldgier verdammte?

Dass nun nur noch das Geld zählt und nicht mehr der Mensch, ist eine pauschale Verallgemeinerung. Es stimmt, dass vieles in Geld bemessen wird, allerdings hat man die Freiheit, sich dem zu entziehen. Die Freiheit zu sagen, dass es einem nicht passt. Man hat die Freiheit daran mitzuwirken, das zu ändern, was einem nicht passt.

Man sollte die Erinnerungen nicht begraben, sie aber gerade jetzt, nachdem die Geschichte der DDR umfassend bekannt ist, richtig einordnen. Ich erinnere mich noch an die Menschen, die 1989 im Lager in Ungarn waren und sich gegenseitig Hilfe und Unterstützung gaben. Ich erinnere mich an den 17. September 1989, als eine fünfköpfige Familie in Badesachen und T-Shirts von einem ungarischen Taxifahrer ins Zeltlager des ungarischen Kardinals in Budapest gebracht wurden. Die Eltern waren mit ihren drei Kindern (4, 5 und 6) durch die Donau von der damaligen Tschechoslowakei nach Ungarn geschwommen und nur mit Badehose und DDR-Ausweis in ein Taxi gestiegen. Als mir die Mutter dies erzählte, konnten wir beide die Tränen nicht mehr verbergen. Damals war mir noch nicht klar, was es bedeutete, mit kleinen Kindern durch einen immerhin schon 400 Meter breiten Fluss in die Freiheit zu schwimmen, aber heute als Familienvater kann ich das nachvollziehen. Ob ich den Mut dazu hätte, wage ich zu bezweifeln ...

Solche Dinge sollten wir nie vergessen, wenn wieder einmal verbrämt über die Schönheiten der DDR im Trash-TV berichtet wird. Liebe ehemalige Landsleute: Feiert den 3. und vergesst den 7. Oktober!