Ein guter Freund ist etwas ganz Besonderes. Nicht ein Kumpel, den man ab und an trifft. Nein, ein Freund, mit dem man vieles geteilt und erlebt hat, der einen besser kennt, als einem lieb ist. Mit dem man ohne Worte abhängen kann und sich trotzdem versteht. Den man Jahre kennt und nach Jahren wiedertrifft und meint, das letzte Treffen wäre erst gestern gewesen. Maik traf ich vor ein paar Jahren wieder. Es war auf eine Weise total vertraut, aber auch wieder ganz neu. Um die ersten, auf seltsame Art peinlichen Augenblicke zu überbrücken, stand ich da und plapperte einfach drauflos – mehr zu seiner Mutter als zu ihm.
Schon zu DDR-Zeiten hatte Maik einige LPs von AC/DC. Damals schmetterte also oft »Hells Bells« durchs elternfreie Haus.
»Wollen wir los?« Maik nickt nur stumm und verzieht das Gesicht zu seinem unvergleichlichen Grinsen, welches ihm stets die Sympathien aller einbrachte. »Na dann«, brüllt Jörg, Fischi genannt, in den Abschlussakkord. Musik aus, Jeansjacke an, los geht es zum kleinen Umtrunk, denn als Gastronomielehrlinge haben wir deutlich mehr Geld als andere Lehrlinge. So können wir auch am Monatsende eine Biersafari starten, wenn andere schon – im doppelten Sinne – auf dem Trockenen sitzen.
An einer Fabrikhalle hängt eines der üblichen, üblen Plakate »Frieden schützen – Sozialismus stärken«. Schnell sind Steine zur Hand. Blöde Idee. Und schon fliegen sie. Die Steine haben bestenfalls Faustgröße, hinterlassen aber fußballgroße Löcher in der Pappmaschee.
Maik scherzt anschließend: »Übrigens hinter uns läuft ein Bulle«. Toller Scherz, aber alt. Fischi erwidert »echt!« Beide beschleunigen ihre Schritte. »Nun übertreibt mal nicht.« Dann der Ruf. »Stehenbleiben, Deutsche Volkspolizei!« Wir beginnen einen leichten Trab, der Polizist auch, wir laufen, er auch, wir rennen, er folgt. »Stehenbleiben!«
»Wir müssen uns trennen«, keucht Fischi. Maik läuft Richtung Schwimmhalle, wir in den Park. Am Ausgang werden wir von zwei Volkspolizisten angehalten. »Wo kommen Sie her?«, fragt ein kurzer Dicker. Er nestelt am Funkgerät: »Hier Toni 13, Zentrale bitte kommen.« Und weiter: »Wir haben hier zwei Personen, auf die die Beschreibung passt«. Rauschen im Funk, Zentrale an Toni 13, Toni 2 an Toni 7 – Toni 9 und 10 sind ebenfalls unterwegs. Tatütata. Mir wird mulmig, die meinen es ernst. Funksprüche hin und her, imaginäre Tonis melden und verabschieden sich, ein zweiter Streifenwagen trifft ein. »Was machen Sie hier?«, fragt uns der Kurze. »Wir wollen einen Kumpel besuchen«, antworte ich. »Adresse, Name«, blufft er mich an. Zum Glück weiß ich eine Adresse und den zugehörigen Namen in der Gegend. Er gibt sich zufrieden. Das Funkgerät quäkt: »Toni13 bitte kommen«. Der Dicke geht zum Wagen: »Drei Verdächtige in der Nähe der Walhalla« (eine Veranstaltungshalle). »Los!«, ruft er dem Hageren zu. Dieser hastet zum Auto, mustert uns noch streng, und quietschend fahren sie ab. Tatütata. Wir machen uns davon, das war knapp.
Als wir anschließend gemütlich bei einem Bier im Bahnhof sitzen, fällt der Schrecken von uns langsam ab. So eine blöde Idee, Steine zu werfen.
Ein schmales Lächeln, das ich mehr vermute als sehe.
Oder weißt du noch, der unfreundliche Termin beim Direktor, schon in der zweiten Lehrwoche? Ein Mitlehrling hatte uns beleidigt, die Rache war silbern. Wir haben seine Haare mit Aluminiumpulver – eigentlich gegen Hautausschlag – onduliert. Das Zeug ging schwer raus und sein Spitzname anschließend auch: Silberlocke.
Zwei Wochen später wieder beim Direktor. Maik schleppte mich hin. Für eine Auszeichnungsfahrt des zweiten Lehrjahres waren noch zwei Plätze zu vergeben. Ich dachte, der Chef schmeißt uns hochkant raus. Aber er hat sich Maiks Vortrag über bessere Integration und Motivation leise lächelnd angehört. Und? Wir durften zur einwöchigen Auszeichnungsfahrt nach Wernigerode mitfahren. In Wahrheit war es allerdings ein Alkoholtestprogramm für angehende Gastronomen.
War da ein Lächeln? Ich nehme mir vor, die alten AC/DC-Platten aus dem Keller zu holen.
Weißt du noch, unsere Arbeit beim Bankettservice, als wir unseren volltrunkenen (weil alkoholabhängigen) Lehrer der Speise-und-Getränke(!)-Lehre vor dem Rausschmiss retteten? Als Serviermeister eingeteilt, hatte er schnell mehr intus als seine Gäste. Den Regungslosen schleppten wir unbemerkt aus dem Haus und zerrten ihn in ein Schwarztaxi. Er war uns später immer sehr gewogen ...
Oder die Hochzeit im Stadthotel. Maik weiß, was kommt, und lächelt müde. Wir bedienten im zweiten Lehrjahr eine Hochzeitsgesellschaft. Maik landete einen blauen Plasteeisbecher samt Früchten, Sahne und Schirm im Dekolleté einer Brautjungfer. Unter dem Gejohle der ganzen Gesellschaft sprang sie raketenartig auf und schüttelte das ganze Ensemble durch ihr Kleid auf den Fußboden. Dann saß sie in Unterwäsche im Office, während unsere Kolleginnen das Kleid nach der Waschung wieder trocken bügelten.
Als ich Maik vor einigen Jahren wiedersah, habe ich ihn nicht erkannt. Er lag mit verkrampften Fingern und einem von vielen Medikamenten aufgedunsenen Gesicht in einem Spezialbett im Wohnzimmer seiner Eltern. Damals konnte er auf Karten zeigen – Ja oder Nein. Heute, viele epileptische Anfälle später, kann er das nicht mehr.
Seine Mutter pflegt ihn. Medikamente für weichen Stuhlgang, andere gegen Husten und wieder andere für bessere Durchblutung, Mineralstoffe und Vitamine füllen die Schränke. Tücher, Tupfer, Windeln und Mahlzeiten aus der Spritze stapeln sich in den Schubladen. Einmal die Woche kommt die Physiotherapeutin. Freunde kommen selten, einmal im Jahr, wenn überhaupt. Was will man auch sagen? Ein Universum zwischen Essenaufnahme und -abgabe – auf zwei Quadratmetern. Der Fernseher läuft im Hintergrund – manchmal »Hells Bells«.
Er kann nichts mehr allein. Vorbei. Am Leben sein, aber doch nicht leben. Am Neujahrstag vor einigen Jahren fuhr ihn ein Betrunkener an - schwerer Hirnschaden. Ich stehe vor seinem Bett und erzähle die alten Geschichten. Manchmal glaube ich ein Lächeln zu erkennen.
Weißt du noch mit Peter? Peter das Maschinengewehr. Peter der blaue Wellensittich, der mit solch aberwitziger Geschwindigkeit Spaghetti vom Tisch aufpickte, dass es wie entferntes Maschinengewehrfeuer klang. Einmal rissen wir ihm aus Versehen eine Schwanzfeder aus, was seine Flugfähigkeiten stark einschränkte. Aber wir konnten ihm helfen. Als ich den mikrochirurgischen Eingriff mit Bastelkleber auf dem Küchentisch auszumalen beginne, huscht ein Lächeln über Maiks Gesicht.
Es bleibt nicht viel, aber ein Lächeln – das bleibt.