09.06.06

Holger Uhlig

Es sind nur ein paar Wochen – zum Glück

Sich frei zu bewegen, ist im Augenblick nicht unbedingt die leichteste Angelegenheit in deutschen Landen. Überall wird man belästigt, genötigt und medial berieselt. Es ist kaum möglich diese gigantische Propagandamaschine zu ignorieren. Überall wehen Fahnen und die Protagonisten streiten sich, wer den Sieg davontragen wird.

Kaum eine Kneipe die kein WM-Menü hat. Telefonriesen bieten ein WM-Special an. Ich kann im Supermarkt nicht mehr normale Cola kaufen, sondern nur noch WM-Cola. Allenthalben grinsen einen die Top-Balltreter von überdimensionalen Plakaten entgegen. Kein Nachrichtensender, der nicht exklusiv und hautnah von der WM berichtet. Nun ist das ja alles recht positiv. Da sind wir so kühlen und distanzierten Deutschen also im Fußballfieber. Da kommt richtig so etwas wie Nationalstolz auf. Allerdings wird dieser uns in langen Jahren fast ab erzogene ebensolche auch nicht mehr weiterhelfen, weil eben nicht vorhanden. Trotzdem, es gibt sie schon, die Autos mit kleinen Deutschlandfahnen, oder Perücken in den deutschen Farben oder Schminksets in Schwarz Rot Gold. Das soll wohl zeigen: Wir sind wieder wer – bloß wer denn?

Da sammeln gestandene Männer Panini-Bilder, Fußballer auf kleinen Abziehbildern, um sie dann in Alben einkleben zu können: »Die sind für meinen Sohn«, wird entschuldigend im Zeitschriftenladen genuschelt. Der kleine italienische Konzern produziert für die Fifa-WM (upps, darf ich das überhaupt schreiben, so ohne Lizenz) zweieinhalb Milliarden Bilder: Echt Wahnsinn! Pizza nur im WM-Trikot. Museumsbesuch: »Die Geschichte des Fußballs«. Handtücher nur mit »Deutschland 2006«. Überall wird mir die WM verkauft. Dabei könnte es doch so schön sein: Die, die Fußball schauen wollen, schauen ihn und die, die nichts mit ihm am Hut haben, machen einfach was anderes. Wenn man die Termine der deutschen Gruppe nicht kennt, ist man doch eigentlich schon eine Persona non Grata (erstes Spiel neunter Juni!). Man wird doch schon scheel angesehen, wenn man die Gruppengegner der Deutschen nicht kennt (keine Ahnung). Dabei will die Deutschen, außer diesen selbst, doch eigentlich keiner sehen. Fußball spielen die Anderen. Der Statikfußball deutscher Gangart haut niemanden vom Hocker. Bei der letzten WM haben wir uns immerhin bis ins Finale gemogelt, bis dann die Brasilianer mit uns Samba tanzten. Nun mag es unpatriotisch und undeutsch sein, sich nicht für Fußball zu interessieren – aber leider geht es mir so.

Aber ich kann nichts dafür. Sie begann eigentlich ganz harmlos, meine Balltrittallergie: Schon als Kind wurde ich immer als fast letzter bei der Mannschaftswahl berücksichtigt, was für meine eigenen fußballerischen Qualitäten spricht. Auch stundenlang vor dem Fernseher zu hocken und sich dabei bis zum Erbrechen Chips, Erdnüsse und Bier in den Hals zu schieben, zählt eher nicht zu meinen bevorzugten Abendbeschäftigungen. Und spätestens beim passiven Abseits bin ich intellektuell überfordert. »Der war doch im Abseits!« »Mensch gib doch ab!« »Elfmeter!«, höre ich die Begeisterten schon brüllen und sich trefflich und situationsbedingt streiten. Experten von Rügen bis zum Bodensee werden sich vor den Mattscheiben zerfleischen. Ob Millionär oder Hartz IV, alle sind nun Experten und wissen es natürlich besser als der Schiri – der hat auch keine Zeitlupe.

In mir allerdings nur absolute Leere, tja, geht leider nicht. Dabei geht es heute schnell, schon ist man ins soziale Abseits gerutscht. Ich hab es wirklich versucht, Interesse geheuchelt, die gängigsten Spieler gelernt, die Regeln überflogen. Aber nichts, gar nichts – geht mir absolut am A. vorbei. Der gewinnt, der fliegt raus – super. Ach war der Falsche, sorry, konnte ich doch nicht wissen.

Aber ich habe Hoffnung, denn dieser Fußball-Krieg ist nur ein temporärer. Der hat sozusagen schon bei Beginn ein Verfallsdatum: »Bitte ab hier nichts mehr entnehmen, nicht mehr schießen, werfen usw. – der Krieg ist aus«, steht auf der Verpackung. Der Krieg geht vorüber und man weiß jetzt schon, wann der letzte Schuss fällt. In vier Wochen ist alles vorbei, keine Toten, meist nur ein paar leicht Verwundete und ein neuer Weltmeister werden das Resultat dieses Events sein. Am neunten Juli ist Schluss. Fahne einrollen, Bierflaschen entsorgen und den Fußballfachmann wieder in die Ecke stellen. Irgendwo dazwischen beginnt meine Zeit.

Am ersten Juli gibt es einen neuen Fernseh-Krieg. Dann fahren an die 200 hochgezüchtete Pedalritter durch die Berge Frankreichs um die Wette. Und am Ende hat der Erste vielleicht 23 Sekunden Vorsprung auf den Zweiten, nachdem sie zusammen 3600 Kilometer Lenker an Lenker durch die Gegend gefahren sind. Dann werde ich vor der Glotze hängen und mir das langweilige Geradel bis zum Erbrechen geben – ohne Bier und Chips. Dann werden mich die Fußballfreunde für einen Bekloppten halten – sei's drum.

Und vielleicht werden sie sagen: »Es sind nur ein paar Wochen – zum Glück«