09.11.14

Holger Uhlig

Drachenbrut – überall

»Hallo, Hallo Herr Jahn, warten Sie doch bitte mal...« Ich war nicht schnell genug, die Gelegenheit ist verpasst. Leider. Manchmal traut man sich im entscheidenden Augenblick nicht und plötzlich ist er vorbei.

Es ist Jahrestag – 25 Jahre Mauerfall. Durch die Sender werden wieder mauerenternde, freudetrunken grölende Ostdeutsche endlosgeschleift. Und Westdeutsche erklären wie schlimm es damals war. Die DDR wird ein Westdeutscher nie erklären können, selbst ich als Ostdeutscher kann es kaum. Diese Melange aus Stasistaat, Verfolgung Andersdenkender, sorgenfreier Jugend, vormilitärischer Ausbildung und nicht vorhandener Sozialangst ist nicht beschreibbar. Diese Mischung aus Gut und Böse, aus Feind und Freund, aus systemkonform und Dissident. Die wahren Probleme – die großen – kennt fast jeder, aber auch die tagtäglichen? Saurer Tee aus Blechkübel. Rotkohl auch im Sommer. Tomaten nicht im Sommer (und auch nicht im Winter). Kohlenschleppen, Anstehen für irgendetwas. Geradestehen für Irgendetwas anderes. Politische Witze nur unter Freunden. Karriere nur mit Parteibuch. Zeitungen mit Einheitsmeinung. Das braucht niemand mehr. Das Feindbild war klar.

Der Feind ist weg, er hat sich aufgelöst. Aber auch heute trauern Menschen dem Feindbild von damals nach. Wolf Biermann beschimpft die Linken im Bundestag als Drachenbrut und reaktionär, also als ewig gestrig. Er vergisst dabei, dass er sich damit selbst persifliert.

Natürlich hat er Recht mit seiner Kritik an dem Unrechtsstaat, allerdings sind die Adressaten seiner Entgleisung im Bundestag die falschen. Ich hätte mir gewünscht, dass er die Regierenden mahnt nicht dort weiterzumachen, wo die Stasi aufhörte. Die Gefahr droht längst nicht mehr von links. Die Gefahr für die Demokratie droht von einem ausufernden Lobbyismus. Die Gefahr droht von flächendeckender Überwachung aller Bürger. Dies mit ausdrücklicher Duldung der herrschenden Parteien. Was in einem Unrechtsstaat, einer Diktatur nicht verwundert, ist in einem Rechtsstaat umso beängstigender.

Bei der heutigen Totalüberwachung, könnte man die Stasi für eine Dilettantentruppe halten – das war sie nicht. Wer wissen will was Stasi war, muss ihre Wirkungsstätte im Nordosten Berlins besuchen. Ein ehemals von hohen Zäunen mit Metalltoren abgegrenzter Bezirk. Eine Unrechtsstätte im Unrechtsstaat. Wenn meine Flucht über Ungarn 1989 nicht geklappt hätte, wäre ich wohl hier gelandet.

Ein weißer Fleck in jedem DDR-Stadtplan, ein ganzer Stadtbezirk abgeschottet von der Außenwelt. Inmitten Hohenschönhausens liegt die Untersuchungshaftanstalt der Stasi. Wer hier ankam war ganz tief im DDR-Unrechtsstaat, ganz nah an den Entgrenzten und kam oftmals erst nach langer Zeit wieder raus. Die meisten Insassen wussten gar nicht wo sie waren, wenn sich das Metalltor nach ihnen schloss. In einem unauffälligen Lieferwagen, eingepfercht in kleine Boxen wurden sie hierher gebracht. Am Auto stand – kein Witz: »Frischer Fisch aus Rostock«. Es geht nicht perfider? Doch! Zu Besuchsterminen wurden die Gefangenen in ein anderes Gefängnis gekarrt, auch die Familie sollte im Unklaren über den Aufenthaltsort der Gefangenen bleiben.

Uns empfängt ein muffiges Untergeschoss mit abgeschabten Wänden und grünlichen Knasttüren, deren Farbe abblättert. Das »U-Boot«. Man kann die Angst und Aussichtslosigkeit förmlich riechen. Ein Mitarbeiter erklärt die Methoden der Stasi. Wir gehen durch enge, verwinkelte und schimmlige Flure, ohne Sonnenlicht. Wir sehen kleine Zellen mit Glasbausteinen statt Fenstern, Holzpritschen statt Betten, Eimern statt Toiletten. Für »besondere« Häftlinge auch ohne Deckel. In der Runde wird kurz getuschelt, als ein prominenter Zeitzeuge dazukommt. Er könnte in unserer Besuchergruppe aus seinem Leben erzählen – großgewachsen, Hakennase, Herr Jahn. Leider schweigt er. Nur ab und zu stellt er eine Frage, oder antwortet auf die Fragen des Rundgangleiters.

In Hohenschönhausen gab es – auch kein Witz – mehr Vernehmungszimmer als Zellen. Für nicht kooperierende Gefangene gab es stinkende Dunkelzellen. Nasszellen in denen man stundenlang im eisigen Wasser stand, Gummizellen. An den Gangwänden waren Signaldrähte gespannt, die mit kleinen Steckern zusammengehalten wurden. Ein kurzer Zug – Alarm.

Es gab – wieder kein Witz – Ampeln, wohlgemerkt im Gebäude. Gefangene sollten nur ihren Vernehmer und den »Schließer« sehen. An Gangkreuzungen wurden die Insassen bei Rot in einer Extrazelle »geparkt«. Dann durfte der Mithäftling im »Querverkehr« auf den Befehl »Gehnse« (sächsisch, für gehen Sie) passieren. Perfide? Es geht noch schlimmer:

Es gab Schlafentzug, dauerhaft. "Rückenschlaf" war Vorschrift, die Hände auf der Decke. Zur Kontrolle dieser Schlafposition wurde jede halbe Stunde eine Hundertwattlampe angeschaltet. Bei »hartnäckigen Fällen« auch in kürzeren Intervallen. Man mag sich kaum vorstellen, wie man sich nach tage- oder wochenlangem Schlafentzug fühlen würde. Die aus allen sozialistischen Ländern zusammengekarrten, überlebenden und leider erfolglosen Republikflüchtlinge wurden hier verhört. Am Ende ein »Geständnis«, dann ein »Gerichtsprozess« mit vorgefertigten Urteilen und oft jahrelange Haft.

Der Gefängnisarzt, ein Stasioffizier, berichtete über alles was die Häftlinge ihm anvertrauten an die Stasi. Ein absoluter Vertrauensbruch und einer des hippokratischen Eides dazu. Er behandelt heute noch im Stadtbezirk Hohenschönhausen. Hier könnte sich Herr Biermann betätigen und eine von vielen Nachwendekarrieren beleuchten. Es gab Spitzel, die Ihre Ehepartner der Stasi auslieferten. Trainer die ihre Athleten belauschten. Arbeitskollegen die Kollegen anschwärzten. Es gab FDJ-Agitatorinnen, die heute Bundeskanzlerin spielen. Wir haben einen Bundespräsidenten, der die »Kirche im Sozialismus« weiterentwickeln wollte und ein »durch die Staatssicherheit Begünstigter« ist. Heute stellt er sich als Bürgerrechtler dar.

Das sind Geschichten, die am Feiertag des Mauerfalls erzählt werden müssen. Geschichte und Geschichten aus erster Hand, dann bräuchte es keine Verbalentgleisungen von einem kleingeistigen und rachsüchtigen Gitarrenzwerg, wie Biermann jemand im SPON-Forum titulierte.

Ich will aber eigentlich noch mit Herrn Jahn sprechen. Er ist mir durchs Metalltor entwischt. Schade. Er hätte über das Ausspionieren von Kollegen und Freunden berichten können, aus eigener Erfahrung. Er hätte sagen können, wie man sich fühlt, wenn man vor den Konsequenzen steht, die dieser Verrat hatte. Wie sich die Zellen anfühlen, die für viele DDR-Bürger zum Martyrium wurden. Leider hat Herr Jahn dazu nichts zu sagen. Nein, nicht Herr Jahn der Chef der Stasi-Unterlagenbehörde, sondern »IM Jahn«. besser bekannt, als Fußballtrainer Eduard Geyer.

Herr Biermann, übernehmen Sie!