15.02.06

Holger Uhlig

Energie, bitte!

Nicht zu glauben, wir kennen uns erst vier Stunden und schon kniee ich vor ihr und meine Hände gleiten langsam über ihren Körper und senken sich auf ihren Bauch. Ich merke, wie sie langsam entspannt und konzentriere mich ganz auf meine Hände. Jetzt nur nichts falsch machen, fährt es mir durch den Kopf – und was mache ich eigentlich hier?

Kennen gelernt ist gut, getroffen habe ich sie erst vier Stunden vorher – das erste Mal, ja. Das war gestern. Heute habe ich mich so gut gefühlt, dass ich seit geraumer Zeit wieder mal Lust verspürt habe, meine Laufschuhe zu schnüren und mir die Gegend unter leicht keuchenden Geräuschen anzusehen. Immerhin fast 40 Minuten trabte ich durch die Wälder. Mir ist es so gut gegangen wie lange nicht mehr. Ob der gestrige Tag die Ursache dafür gewesen ist?

Der beginnt ganz normal. Noch schnell ein halbes Brötchen rein geschoben und los geht es. Die Tasche geschultert mache ich mich auf den Weg zur U-Bahn. Aussteigen, Adresse suchen, verwundert umblicken – ja hier über dem Tierfutterladen ist es. Da stehen sie nun alle. Ich geselle mich zu ihnen und wünsche hamburgisch »Moin, Moin« – ich bin dabei. Das dort muss die Meisterin sein, bodenlanges, violettes Kleid, vollschlank, blonde Haare, trotzdem etwas fremdländisch anzuschauen – es kann losgehen. Ein großer, sonnendurchfluteter Raum nimmt die Gruppe auf. Dielenboden, helle Wände, große Fenster, Sonne – ein schöner Tag. Ich hole mir eine Matte, lege meine Decke und mein Kissen darauf und harre der Dinge, die da kommen mögen. Begrüßung, freue mich...

15 Frauen und nur drei Männer, vielleicht ist das doch keine so gute Idee gewesen, fährt es mir durch den Kopf. Links neben mir ein scheuer Blick, schaut gleich weg. Rechts neben mir blitzende Zähne und ein Lächeln, (was für eines) trinkt versonnen ihren Tee. Yogi? Ich blicke in die Runde, während die Meisterin mit der Theorie beginnt: ...»Universelle Lebensenergie, chinesisch Qui, indisch Prana« – wir werden hier Einblicke in das Usui-System erhalten. Na denn. »Das Universum ist von einer unerschöpflichen Energie erfüllt, wir müssen sie nur abrufen« folgt darauf. Gut. Die Theorie zieht sich. Als vom Energiekanal die Rede ist (der ich werden soll – wie alle anderen auch), schaue ich wieder in die Runde. Keiner blickt verwundert auf. Ach so. Weiter. Die Engel, welche euch zur Hand gehen, Stopp, stopp – Rundumblick, alles entspannt. Entweder bin ich noch nicht so weit, habe ein männliches Problem oder ein ostzonales Bildungsdefizit. Die haben den Engel geschluckt, einfach so. Mir ist der Begriff Engel immer nur im Zusammenhang mit Jahresendzeitfigur oder dem besten Lied von Westernhagen ein Begriff. Aber keiner schaut verwundert oder verwirrt in der Gegend herum, nichts, alles normal, alles entspannt.

Ich warte auf das Aufspringen der Tür – Hape Kerkeling kommt rein und zeigt die Kameras, dort und dort. Aber die Tür bleibt geschlossen.

Entspannung. Habe ich auch dringend nötig, meine Gehirnzellen rotieren völlig im Vakuum, ich krieg es nicht zusammen. Musik, leise wie ein ferner Gebirgsbach. Die monotone Stimme lullt mich ein. Anfangs kann ich der Geschichte folgen, aber schon nach wenigen Minuten nicht mehr. Männer können eben nicht zuhören. Ich gleite in Traumwelten ab. Aus. Erst leise und verschwommen, dann lauter und deutlicher, kommt die Stimme wieder an mein Gehör. Ich komme zu mir und bin einfach frei. Super. Dann heißt es weiter Theorie, Chakren kennen lernen. Vom Scheitel- bis zum Wurzelchakra, keines wird ausgelassen, die Farben dazu, die Krankheiten dazu... und eine über 2500 Jahre alte Heilmethode wird uns erläutert. »Psst, leise, zuhören!« Es gibt drei Grade: Im ersten wird der Schüler zum Lichtkanal »geweiht«. Oh! Im zweiten Grad wird das Energieniveau durch erneute Einweihung noch erhöht. Das geht? Im dritten, dem »Meistergrad« wird der Schüler in die Meisterenergie eingeweiht. Ich bin völlig überfordert – hilfe! Welche Energie, woher, wohin, womit?

»Du musst die Energie nur durch dich fluten lassen und mit den Händen übertragen, das kann jeder, der die Technik beherrscht.« Ist so einfach wie Fahrrad fahren, geht es mir durch den Kopf. Los geht's, Eigenversuch. Die Hände werden auf die verschiedenen Chakren gelegt und bleiben dort drei Minuten. Volle Konzentration. Merke ich was oder doch nichts? Scheitel, Herz, Wurzel – geschafft. Das war es? Die monotone Stimme beginnt wieder. Ich lasse mich auf die Matte gleiten und folge, so gut es geht. Leider reicht es wieder nur zur Kurzstrecke. Nach dem Aufwachen folgen Fragen nach dem inneren Kind, der inneren Frau und demselbigen Mann. Wer, wie, was – ich hab es verpennt, wieder eingeduselt. Die Mädels beginnen zu berichten von Räumen und Begegnungen – war da was? Nee, leider nicht – etwas Licht, ansonsten eine Menge angenehme Wärme und Schluss...

Jetzt wird's ernst, Partnerübungen. »Na denn, leg dich mal hin!« vernehme ich und überlege angestrengt, ob es auch einen Tantra-Kurs gibt. Meine nette Nachbarin macht sich die Hände warm, die Behandlung (im Testbetrieb, weil wir noch nicht geweiht sind) beginnt. Die Matte nimmt mich auf, die Augen zu – Atem einigermaßen ruhig. Sie nimmt meinen Hinterkopf in ihre Hände, passiert was? Wärme, Kribbeln, vibrierende Energien? Fehlanzeige. Was habe ich erwartet? Pulsierende Stromstöße? Ich sollte meine Ansprüche dringend überdenken. Als nächstes die Stirn, nichts Neues, die Augen – Fehlanzeige. Jetzt die Ohren, es wird warm, wärmer, heiß. Schizophrenie pur. Die Ohren sind wirklich heiß – ich glaub's nicht, doch ich glaub's. Oder ist es die Sonne? In den Händen, nein, ja. Dann der Hals, sie beugt sich über mich, riecht gut. Mein Unterkiefer pulsiert leicht. Freitag ist der nächste Zahnarzttermin, fährt es mir durch den Kopf. Dann das Herz, ich habe fast Schmerzen, auf jeden Fall ein Druckgefühl, obwohl ihre Hände über meiner Brust in der Luft schweben. Hilfe. Sie arbeitet sich zum Bauch vor und riecht gut. Genug. Ich bin leicht verwirrt, aber entspannt, entspannt. Nun bin ich dran. Ich bemühe mich redlich, die richtigen Handpositionen auszuführen, immer leicht schwebend, nach Absprache auch aufliegend. Ich beuge mich über sie – ihr Atem wird ruhig. Scheitel, Augen, Herz, immer tiefer arbeite ich mich ab (was für eine Frau), und sie liegt da und duftet.

Danach schauen wir uns an. »Wo war's bei dir warm«? fragt sie. »Die Ohren, am Hals pulsierte es – und das Herz« entfährt es mir. Verständiges Lächeln. Ich weise darauf hin, dass ich nicht sicher bin. Einbildung soll es ja geben. Nein, nein ist schon OK. Beim Wurzelchakra, oder war's das Sexualchakra, kam die Meisterin, um selbst bei ihr Hand anzulegen und sie verspürte ein deutliches Pulsieren. Was will uns das sagen? Welche Krankheiten oder Energieblockaden soll es dort geben?

Sie lächelt und sagt »Wenn man sich etwas ganz stark wünscht, und oben« – wo? – »bestellt, dann passiert es auch«. Aha. »Was denn?« frage ich ziemlich desorientiert. »Einen Parkplatz direkt vorm Einkaufszentrum zum Beispiel«. »Und das klappt?« »Ja.« Ich werde es probieren. »Was machst du sonst noch, außer Reiki-Kurse zu besuchen?« Sie erklärt mir, dass sie Nia mache, eine tänzerische Entspannungstechnik. Ja. Außerdem hat sie ein Pferd. »Jetzt im Winter reiten?« frage ich. »Nein, nur bewegen, mit den glatten Hufeisen würde das Pferd doch ausrutschen« antwortet sie. Natürlich – was für eine blöde Frage, mit Pferden kenne ich mich ja toll aus, sinniere ich. Sechsmal in der Woche müsse sie hin – »es ist fast wie ein Kind« ergänzt sie, und: »Im Winter longieren und im Sommer reiten«. Wenn es so einfach wäre, denke ich, keine Windeln, keine Taxifahrten zum Sportklub, keine Nachhilfe, keine Zahnspange – das Elternsein wäre so einfach, eine lange Leine und ab und zu eine Mohrrübe.

So, nun zum Erfahrungsbericht – ich halte mich bedeckt. Lieber nichts sagen als was Falsches. Auch meine Energiespenderin hält sich zurück. Dafür fallen andere existentiellere Fragen wie: »Kann ein energetisch Niedriger einem Höheren auch Reiki geben?« »Aber sicher, das kann jeder.« Klar. »Kann man auch was falsch machen?« »Eigentlich nicht, aber man muss immer fragen ob der Empfangende das überhaupt will«. Sowieso klar. »Kann das jeder?« »Ja.« Eh klar. Zum Abschluss wieder eine Reise ins Unterbewusstsein. Ich sinke auf meine Matte, wickle mich in meine Decke, die Sonne ist weg, die Füße kalt und folge...

...folge über den schmalen weichen Sandweg auf die hölzerne Bank, dann über die grüne Blumenwiese an den blau glitzernden See. Es ist heiß. Ich lege alle meine Kleider ab und schon bin ich im kühlenden Wasser. Dann wieder raus, ich lasse mich von der Sonne trocknen und laufe weiter, weiter, weiter... Als die Stimme wieder an mein Ohr dringt und ich wieder auf die Bank zusteuere und später auf den Sandweg einbiege, fühle ich mich leicht und locker. Ich schlage die Augen auf, recke und strecke mich, bin wieder da – der See ist weit weg. Innerlich ziehe ich Resümee – wie war's?

Nicht zu glauben, wir kennen uns erst vier Stunden und schon kniee ich vor ihr. Anspannung, Entspannung, Chakra, Energiekanäle, Engel, Wohlfühlen – ohne das Brimbamborium drum herum einfach Klasse und schwer zu empfehlen. Ich bin relaxt und ziemlich schlapp, richtig gehend platt. Die Tagesthemen werde ich heute wahrscheinlich nicht mehr erleben. Bis zum nächsten Kurs, unbekannte Schöne – wir sehen uns am See.