17.11.15

Holger Uhlig

Warum man Klassentreffen nur mit viel Glück überlebt

Mein Auto, mein Haus, meine Jacht – bei unseren Klassentreffen gibt es das zum Glück nicht. Ich hoffe allerdings immer, es wird nicht wie: »Opa erzählt schon wieder aus dem Krieg«. Wenn man dann aber dort ist, kommen die altbewährten Erinnerungsmarathons, man lacht gemeinsam über die aufgewärmten Geschichten und hofft den Abend ohne die Erwähnung all seiner eigenen Peinlichkeiten zu überleben.
Es ist Samstagabend und wir haben Dreißigjähriges. So lange ist es her, dass sich unsere 10b der Erwin-Panndorf Oberschule in die Ausbildung stürzte und wir uns aus den Augen verloren. Erstaunt stelle ich fest, wie vertraut mir die Gesichter und Gesten der ehemaligen Mitschüler selbst heute noch sind. Wir haben zehn Jahre zusammen gelernt, gelitten und später in den letzten Jahren auch gefeiert. Die Stückelschule westdeutscher Prägung gab es im Osten nicht, stattdessen zehn Jahre Polytechnische Oberschule.
Jetzt sitzen wir zusammen und bestellen unser Abendessen, wobei wir uns – natürlich – an die alten Zeiten erinnern. Eben »Opa erzählt vom Krieg«. Was man selbst nicht mehr genau weiß, kommt in gemeinsamer Erinnerungsarbeit wieder ins Bewusstsein.
Die besten und die schlimmsten Lehrer.
Die nettesten und die blödesten Mitschüler.
Die ausschweifendsten Partys und die traurigsten Momente.
Detailreich kommen die Ereignisse wieder ins Bewußtsein und das Bild vervollständigt sich langsam, wie ein großes Erinnerungspuzzle.
»Mann, der Chemielehrer, wie hieß er noch?« Das war der, der uns zum Abschied in Reagenzgläsern Hochprozentigen zum Anstoßen mischen ließ – wohlgemerkt im Unterricht. Ich bestelle mir noch ein Bier. Dann die Russischlehrerin, sie hatte zu eng mit einem Schüler abgehangen und sich später aufgehangen. Der Geografielehrer, der schmerzhaft an die Tische trat. Und das Auto unseres Stabilehrers(*), das die Schüler der Abschlussklasse auf das Garagendach stellten. Allgemeines Gelächter. Ich setze einen drauf: »Ich hatte einen Eintrag im Hausaufgabenheft ‚Holger wirft die Farben seiner Mitschüler aus dem Fenster‘«. Die anderen grinsen wissend. G. sagt: »Das war in der siebten Klasse. Die Lehrerin Frau F. war mit uns (ihrer ersten Klasse) überfordert. Trotzdem weinte sie, als sie unsere Klasse abgeben musste.«

Die Scheußlichkeiten des Schulalltags waren: Staatsbürgerkunde, Turnen – auch für Jungs, Wehrerziehung, FDJ-Hemd, Schulspeisung, Hausschuhe – wir lachen schallend. Es gab auch Schönes: Bio bei Herrn K., Sport, wenn nicht geturnt wurde, Klassenfahrten nach Mecklenburg, Partys im Hausklub »Flash Gordon« oder mit dem Moped nach Tschechien.
Außerdem verbrachten wir viel Freizeit zusammen. Wir »Gettokids« wohnten im selben Neubauviertel in der Innenstadt und spielten fast jeden Nachmittag zusammen Fußball. Unser Bester war C. Wie ein Pincher, immer am Ball, immer im Angriff, immer als erster gewählt. Ich war meist Schlusslicht.
S. hat Bilder von damals mit. Mann, sah ich komisch aus, denke ich, die anderen zum Glück auch. »Das war doch...?« fragt G. »Ja, genau, Klassenfahrt nach Syrau« antwortet J.U. GST(*)-Lager in Crispendorf. Wir haben mit 15 schon Soldat gespielt. Es gab besoffene Unteroffiziere, die uns eigentlich drillen sollen. Es gab Kalaschnikows zum Auseinanderbauen und Wiederzusammensetzen. Es gab Honig in Würfelform und den morgendlichen 3000-Meter-Lauf. Es gab Gasangriffe, mitten im Thüringer Urwald, mitten im Frieden. Wir mussten dann in sieben Minuten »Vollschutz« anlegen. Wir lassen uns über die Bilder aus, und jedes neue Bild vervollständigt das Kopfpuzzle.

A. arbeitet jetzt bei Oldenburg, erzählt er mir. Frisch geschieden, Kinder am Wochenende, normal halt. Da kann ich nicht mithalten: Nicht geschieden, Kinder die ganze Woche. »Wie alt sind deine«? Ich antworte: »12 und 19«. »Was ist eigentlich mit M.?» »Der ist mit der Firma segeln«. »Und C.?« »Der ist nicht auffindbar«. Der beste Fußballer der Klasse, der Pinscher und schwer vom Ball zu trennen, ist abgetaucht in Alkohol und Harz IV. »Und T?« »Und S.?« »Und was macht D.?« Nicht von allen Schülern gibt es aktuelle Berichte, aber zu sehr vielen weiß irgendjemand etwas. Ich nehme noch ein Bier und der Abend gleitet in der Erinnerungsschleife aus. Nach den letzten Bieren löst sich die Gesellschaft langsam auf, wir treffen uns dann sicher in ein paar Jahren.

Sonntagabend die Heimfahrt nach Hamburg. Die Daten: Tankstelle bei Jena, Mitfahrzentrale, Opel Corsa, 4 Personen, Dauerregen, Harald K. Ich bekomme den Platz neben dem Fahrer, was ich anfangs gut finde und später bereue. Zwei Mitfahrer sind schon im Fond verquetscht. Rauf auf die A9, rauf aufs Gas, rauf auf die Überholspur. Ein Corsa fährt nicht 170? Doch! Abstand zum Vordermann bei dieser Geschwindigkeit? Platzverschwendung – welcher Abstand? Harald würde das Platzproblem auf deutschen Autobahnen lösen, der Bundestag sollte ihn zur nächsten verkehrspolitischen Lesung einladen, denke ich. Aber sofort bin ich wieder beim Irrsinn hier auf der A9: Harald gibt Vollgas, raus auf die dritte Spur, dem Vordermann so weit auf dem Pelz, dass der meine Schweißperlen auf der Stirn zählen könnte. Bis zur Abfahrt ein ständiger Wechsel zwischen Gas und Bremse. Dann die A14 – der Motor heult. Auffahren, aufblenden, aufheulen – das ist der Rhythmus im Himmelfahrtscorsa.
Gas, Bremse, Gas, Bremse – ich bremse (vergeblich) mit. Das Bodenblech auf der Beifahrerseite ist sicher stark ausgebeult von meinen Bremsversuchen. Dann sollte die A2 kommen. Aber Harald fährt, 200 Kilometer vor Hamburg, von der Autobahn ab. Ich atme auf. »Es geht schneller über die Landstraße, auf der Autobahn vor Hamburg ist eh immer Stau«, sagt er. Die Landstraße: es ist stockdunkel, der Nieselregen wird stärker, auf der Fahrbahn liegt schon das erste Laub, kurvige Strecke – Gas und Bremse wechseln sich ab.
Zu früh aufgeatmet geht es mir durch den Kopf, denn der Corsa wird weiter getreten. Auf Stoßstangenabstand, mit Vollgas und fast ohne Sicht aus dem Windschatten jagen wir mit aufgeblendeten Scheinwerfern durch die Regennacht. Ortschaften werden durchflogen. Verkehrsvorschriften? Makulatur! Ein Schild mit 70 – egal, wir fahren 110. Ortschaften mit Tempo 50? Da gehen auch 80. Harald hat eine Blitzwarn-App, die hunderte Meter vor jedem Blitzer piept.
Zehn weitere Beinaheunfälle später taucht die A39 aus der Gischt auf. Vollgas! Auf der Zielgeraden will Harald noch ein paar Sekunden rausholen. Der Corsa gibt alles. Rechts, links, Gas, Bremse. Es regnet stärker, ringsum wird langsamer gefahren – endlich die Chance auf die Pole-Position. Am Hamburger Hauptbahnhof verlassen die Mitfahrer völlig entspannt den Rollsarg aus Rüsselsheim. Dann der Endspurt mit 80 Sachen durch Hamburg, Harald will noch weiter auf die A7. Er lässt mich an der Autobahnauffahrt entkommen. Raus. Endlich. Ich stehe schweißnass und mit weichen Knien am Straßenrand und nehme den nächsten Bus. Mann ist der laaangsam ...
Meine Empfehlung für alle, die am Wochenende einen Nervenkitzel suchen: Mitfahrzentrale, Sonntagabend, Opel Corsa ab Jena. Harald K.

[*] Stabilehrer, von Staatsbügerkunde-Lehrer. Die Lehre vom Sozialismus, also Marxismus-Leninismus für DDR-Schüler.

[**] GST – Gesellschaft für Sport und Technik. Unter diesem Deckmantel fand auch die vormilitärische Ausbildung statt.