22.07.06

Holger Uhlig

»Tour der Leiden« oder
Helden sterben leise

Im Western spiegelt sich immer die Sonne auf den Pistolenläufen, bevor der finale Schusswechsel den Schurken ins Jenseits und den Guten in die Arme eines Quacksalbers und später in die seiner Favoritin wirft. Im richtigen Leben fehlt dieser letzte Akt, Helden sterben leise und unbemerkt. Der Ruhm ihrer früheren Tage verblasst, wie die Farbe auf alten vergessenen Kinoplakaten. Die Helden von heute sterben selten durch Pistolenkugeln, sondern bringen sich meist selbst zu Fall.

Einer dieser Helden ist Jan Ullrich. Nachdem er 1997 überraschend die Tour de France gewann, wurde der Radsport in Deutschland populärer als je zuvor. Und jetzt soll er ein Doper, ein Betrüger sein? Das gibt's doch nicht!

Erstmal sollten wir das Betrügen nicht so bierernst nehmen, das macht doch jeder – oder nicht? Da ist der Ulle in bester Gesellschaft. Sind wir nicht alle schon mal schwarzgefahren? »Ja und plötzlich saß ich in der Bahn und konnte keinen Fahrschein mehr lösen« – mitleidig schaut uns der Kontrolleur an und füllt den Strafzettel aus. Schon in der Schule wird geschummelt, das ist meist der erste Meilenstein in einer Betrügerkarriere. Weiter geht's über den Steuerbescheid, das Zweit- und Drittkonto usw. Betrügen ist in und lohnt sich. Manager verbringen den Großteil ihrer Zeit damit, Möglichkeiten zu finden, noch legale oder auch schon illegale, aber nicht justiziable Steuerschlupflöcher aufzutun. Warum sollte also ausgerechnet ein Spitzensportler sauber sein?

Gern erinnern wir uns an die schwimmenden Kleiderschränke aus dem Ostblock. Die Damenbart tragenden Muskelpakete im Stadionrund sind mir heute noch vor Augen. Mit Doping hatte das nichts zu tun, nur mit stahlhartem Training in den Weiten Sibiriens.

Und nun das: Doping. Noch ist nichts erwiesen, aber die Reaktionen auf den Ausschluss von der »Tour der Leiden« sprechen ihre eigene Sprache. Uns Ulle positiv – das darf, das kann nicht sein. Jetzt sitzt er statt auf einem Rennsattel in seinem Schweizer Haus und versteckt sich vor der Welt und sich selbst. Schuldig, giften schon die meisten Blätter und verurteilen ihn, bevor auch nur ein Beweis nachprüfbar auf dem Tisch liegt. Die Unschuldsvermutung müsse gelten, macht er geltend. Stimmt. Solange ihm ein Vergehen nicht nachgewiesen wurde, ist er als unschuldig anzusehen. Ein Geschmäckle bleibt.

Dabei sind Doping und Radsport fast unzertrennlich. Solange für Geld durch Frankreich geradelt wurde, solange wurde gedopt. Die Kontrollen deckten einige, aber längst nicht alle Betrügereien auf. Es finden sich viele große Namen unter den Erwischten: Induráin, Eddy Merckx, Abduschaparov, Thurau, Virenque, Pantani, Greg LeMond.

Dass diese überführten Betrüger heute wieder als Helden gefeiert werden, zeugt von der Vergesslichkeit des Publikums und der Unvergesslichkeit ihrer Husarenritte. Dabei haben viele Sportler glaubhafte Erklärungen für ihren Drogenbesitz. Leider will sie keiner hören.

Als die Frau des litauischen Radrennfahrers Rumsas mit einem ganzen Arsenal verbotener Substanzen im Kofferraum erwischt wurde, gab sie an, dass die Medikamente für ihre Mutter seien. Erhebliche Mengen von EPO, Anabolika und Aufputschmitteln für die Mutter? Tja, die Versorgung der Familie stellt heute auch die »Alten« vor schier unlösbare Konditionsprobleme. Wenn man da mal ein bisschen »Super« aufgießt, wer will's verdenken, oder ist EPO beim Kochen und Backen illegal?

Als bei Radsportstar Franck Vandenbrouke ebenfalls Dopingmittel gefunden wurden, erklärte er, das Asthmamittel Clenbuterol sei für seinen Hund gewesen. Ein echter Tierliebhaber. Wer würde schon einen keuchenden Hund an seiner Seite leiden lassen?

Der als Dopingarzt verunglimpfte spanische Arzt Eufemiano Fuentes sagt, dass ohne leistungssteigernde Mittel (Kauderwelsch für Doping) heute kein Fahrer mehr die Bergetappen mit gleich bleibender (Höchst-)Leistung bestreiten könne. Und die Blutkonserven, die in seinen Kühlschränken gefunden wurden, seien für eventuelle Unglücksfälle der Athleten gedacht. Na also, hier klärt sich doch alles auf.

Gilberto Simoni (Giro-Gewinner 2003) wurde 2002 positiv auf Kokain getestet. Seine Erklärung: »Der Tee bei meiner Tante war mit Rohrzucker aus Peru gesüßt.« Na die Jungs in den Anden lassen es ja mächtig knallen, ist das dort Standard oder doch eher der Premium-Zucker für die gehobenen Ansprüche?

Betrügen hat, außer gewinnen zu wollen, aber noch einige ganz handfeste Hintergründe. Erstens werden die Methoden des Dopings immer mehr verfeinert, das heißt die Chance nicht erwischt zu werden ist groß. Zweitens kann nicht umfassend kontrolliert werden – das Geld fehlt.

Der Antidopingkampf ist nicht nur im Radsport ein Stiefkind, sondern auch in vielen anderen Sportarten. NBC hat gerade zwei Milliarden (die Zahl mit neun Nullen) Dollar für die Übertragungsrechte der Olympischen Spiele 2010 und 2012 hingeblättert, da sollte doch ein kleiner Brocken für den Antidopingkampf abfallen? Weit gefehlt. Dabei wäre wirkliche Abschreckung ohne großen Aufwand möglich.

Drittens lohnt es sich auch für die Wasserträger (Helfer) der Radstars, denn durch ihre Höchstleistung sind die Siege ihrer Kapitäne erst möglich. Und das Risiko, dass der 82. einer Etappe der Tour de France kontrolliert wird, ist verschwindend gering. Viertens ist es ein Überlebensproblem vieler Radrennfahrer. Denn nur mit sehr guten Leistungen empfehlen sie sich für einen neuen Vertrag bei einem Rennstall. Nur Top-Leute, wie Jan Ullrich, verdienen gutes Geld, das Gros der Fahrer muss mit Arbeitsverträgen für eine Saison und einem kleinem Beamtengehalt auskommen.

Lieber Jan: Nun bekenne dich doch endlich, gib mal Butter bei die Fische. An den Vorwürfen ist nichts dran. Und es ist doch alles erklärbar: Das Blutdepot ist für eventuelle Unfälle vorgesehen – Radsportler leben gefährlich. Amphetamine und Insulin für deine Mutter, die Hausarbeit ist ohne kleine Helferchen heutzutage nicht mehr zu schaffen. Deinen Hund musst du nicht bemühen, denn du hast ja selber Asthma, das erklärt die Asthmamittel doch wohl. Eigentlich ist alles klar – unschuldig. Und dann, nächstes Jahr, mal die Arschbacken zusammenkneifen, im Winter nicht so viel Fett anfuttern und die Tour gewinnen!

Falls aber an den Vorwürfen doch etwas dran sein sollte, dann bleib in deinem Schweizer Domizil. Die neuen Helden sind schon da. Die Straßen zu den Bergetappen waren gefüllt mit ihren Namen. Deinen hab ich nicht mehr gesehen, aber du weißt ja: Helden sterben leise.