06.02.09

Christoph Wesemann

Unfallchirurgie auf Ukrainisch

Ich habe ein ziemlich gesundes Verhältnis zur Medizin. Ich vertraue Ärzten immer und widerspreche nie, ich schlucke und trinke, was sie mir verordnet haben. Manchmal denke ich, ich habe in meiner Kindheit zu viel Schwarzwaldklinik geschaut und sehe deshalb in jedem Arzt einen Wunderheiler. Nicht einmal der Umzug in die Ukraine hat mein Verhältnis zur Medizin verändert, obwohl ich manches ertragen muss: Katzen im Kinderkrankenhaus, zitternde Zahnärzte mit einer Fahne und voll gequalmte Aschenbecher im Behandlungszimmer.

Jetzt bin ich in Odessa sogar zum Schönheitschirurgen gegangen. Ja, ich bereue es.

Vor einer Woche hatte ich einen wichtigen Termin in Kiew. Ich bestieg an Odessas Busbahnhof den Sprinter von Mercedes, der dort herumstand, einen dieser sitzmöblierten Gemüsetransporter für Leute mit wenig Geld. Ich bezahlte umgerechnet elf Euro und bekam keinen Fahrschein. Vor mir lagen 500 Kilometer und zehn Stunden auf der Autobahn.
Die Reise mit dem Komfortbus der Firma Autolux oder dem Zug wäre doppelt so teuer geworden. Natürlich hätte ich auch fliegen können. Aber einerseits verkehrt auf dem Luftweg zwischen Odessa und Kiew oft eine fliegende Klapperschlange der ukrainischen Gesellschaft Aerosvit.
Andererseits ging es mir finanziell auch schon mal besser. Mein Ruf als Kolumnist ist nicht mehr der beste, weil ich in der Vergangenheit massenhaft faule Kalauer in Umlauf gebracht habe. Ja, ich habe mich schwerer Wortwitzverfehlungen schuldig gemacht; zum Beispiel bezeichnete ich Altkanzler Gerhard Schröder, einen Mann mit vielen Verdiensten, auf die ich an dieser Stelle nicht näher eingehen kann, als »Hannoveraner Hengst«. Schröder erschien mir in der Nacht, rüttelte an meinem Traumzaun und schrie: »Ich will hier rein!« Seinen Amtsvorgänger Helmut Kohl, den Entdecker von Europa, ließ ich von sibirischen Schlittenhunden durch die Arktis ziehen. Ich hatte jedes Maß verloren, ich war gierig, ich wollte Ruhm um jeden Preis, ich habe übertrieben, ich war aber beileibe nicht der einzige in der Kolumnistenbranche. Ich bitte um eine zweite Chance. Danke.

Ich will nicht eingebildet klingen, aber ich passte in diesen Mercedes-Sprinter, den die Einheimischen Marschrutka nennen, wie der Papst in eine Eckkneipe. Der Fahrer rauchte unaufhörlich. Die Frau hinter mir redete mit den toten Forellen im Netz zwischen ihren Beinen. Die Männer erzählten Witze, die selbst ein überzeugter Kolumnist wie ich nicht vertrug. Nach zwei Stunden geriet vor uns ein Jeep ins Schleudern, zeigte eindrucksvolles Leitplankenbillard und zwang uns zum Halten. Eine Minute später knallte es, wir rutschten sekundenlang über die vereiste Autobahn, Leute schrien, Scheiben splitterten. Ein anderes Auto hatte uns gerammt. Der sitzmöblierte Gemüsetransporter war Schrott. Ich erschien mir unverletzt und fand sogar meine Brille vom deutschen Optiker M. in Odessa wieder, die beim Zusammenstoß davongeflogen war. Die Witzeerzähler kühlten mit Schnee ihre Platzwunden, die Forellenfrau fluchte in ihr Netz, der Fahrer trauerte. Nach eineinhalb Stunden kamen zwei Polizisten.

Foto

Sitzmöblierter Gemüsetransporter

Foto von Christoph Wesemann

Ich wollte gerade als Zeuge den Unfall schildern, da brachte mich ein Unbekannter in seinem Lada Niva ohne Gurte ein paar Kilometer zurück zu einem Bahnhof. Ich stieg in den Komfortbus nach Kiew. Als ich ein paar Stunden später wieder ausstieg, konnte ich nicht mehr gehen und wurde von der krummsten Kiewer Krückstockoma überholt. Am nächsten Tag kehrte ich nach Odessa zurück – mit der fliegenden Klapperschlange.

Als Kind bin ich mal vom Klettergerüst gefallen und musste zwei Tage ein Pflaster auf der Stirn tragen. Ich erinnere mich auch an zwei blutige Nasen, natürlich nicht erboxt, sondern erträumt beim Volleyballspielen im Sportunterricht. Vielleicht blutete auch mal mein Knie, ich bin aber nicht sicher. Jedenfalls habe ich mir noch nie irgendetwas, nicht mal den kleinen Finger, gebrochen.

Ich schleppte mich in die Poliklinik, bezahlte umgerechnet fünf Euro und betrat das Zimmer des einzigen Chirurgen, der an diesem Sonnabend arbeitete. Juri Valentinowitsch, ein Mann um die fünfzig, sehr gepflegt, fast weltmännisch wirkend, reichte mir erst einmal seine Visitenkarte, die ihn als Mitglied der Vereinigung der Schönheitschirurgen auswies. Von meinem Bein war er eher wenig beeindruckt, aber wahrscheinlich darf man das, wenn man aussieht wie ich, einem Schönheitschirurgen nicht vorwerfen. Juri Valentinowitsch verschrieb mir Schmerztabletten, eine Salbe und Antibiotikum für fünf Tage zum Selberspritzen in den Po.

Ich steckte ihm unauffällig zwei Scheine in den Kittel, umgerechnet vier Euro – doppelt so viel, wie ich sonst ukrainischen Ärzten zahle –, und bedankte mich.
»Ist das schwierig?«, fragte ich zum Abschied.
»Was meinen Sie?«, fragte Valentinowitsch.
»Ich habe mich noch nie gespritzt.«
»Einfach hinein damit.«
»Ich bin manchmal ungeschickt«, sagte ich.
»Es ist bloß Ihr Hintern!«

Ich kann nur für mich sprechen, aber der Doktor hatte Recht: So eine Pobacke ist eigentlich nicht zu verfehlen. Das Fleisch ist sowieso willig. Morgens mischte ich mir aus Wasser und diesem weißen Pulver mein Antibiotikum, desinfizierte die Haut, setzte die Nadel auf die Spritze, drückte einmal kurz ab, um die Luft hinauszulassen, und stach zu.

Ein paar Tage später war ich wieder bei meinem Schönheitschirurgen. Auf seinem Tisch lagen drei Eintrittskarten für eine Miss-Wahl – wahrscheinlich das Geschenk einer glücklichen Ex-Patientin. Juri Valentinowitsch tastete die lädierte Wade gründlich ab, telefonierte mit einem Kollegen und empfahl dann Wodka.
»Trinken?«, fragte ich, weil ich ihn nicht richtig verstanden hatte. »Rotwein wäre mir ja lieber.«
»Trinken können Sie den Wodka auch, schaden kann es nicht«, sagte Juri Valentinowitsch und grinste. »Ich meinte aber eigentlich: Wickeln Sie sich eine Mullbinde mit Wodka ums Bein.«

Ich habe nicht das Gefühl, dass sich mein Zustand bessert. Wenn ich mal nicht herumliege, hüpfe ich mit einem Wodkawickel am Bein ins Bad. Meine Wade verträgt keinen Wodka. Sie verfärbt sich, sie wird links gelb und läuft rechts grün an, obwohl ich ihr keinen Fusel andrehe. Ich schenke feinsten Nemiroff aus.
Jeden Tag verliere ich mehr an Autorität in der Familie. Gestern bat ich meinen Sohn, mir etwas Obst ans Bett zu bringen. Nach zwanzig Minuten bekam ich ein Netz mit vier Zitronen.
»Und das hat so lange gedauert?«, fragte ich.
»Papa, ich musste erst meine Kuscheltiere füttern«, sagte er.
»Hast du deine Kuscheltiere mehr lieb als mich?«
»Sie sind privat versichert.«

Nicht einmal Oberschwester Hildegard aus der Schwarzwaldklinik war so garstig. Ich gebe ja zu, dass ich leiser stöhne, wenn ich allein zu Hause bin, und mein Humpeln ohne Publikum ein bisschen weniger nach Kriegsverletzung aussieht. Ich gebe weiterhin zu, dass ein Patient an Glaubwürdigkeit verliert, der es tagelang nicht schafft, die Kaffeetasse in die Spüle zu stellen, und dann auf einmal den großen Fernseher 50 Schritte ins Schlafzimmer trägt. Andererseits wird man als leidender, im Sterben liegender Mann ja von Frauen, die schon einmal im Kreißsaal gekämpft haben, aus Prinzip für einen Simulanten gehalten. Ich leide tatsächlich. Kann ich etwas dafür, dass ich die Geburt eines Kindes nicht als Vergleichsschmerz habe?


Foto: Krücken

Meine Krücken

Foto von Christoph Wesemann

Heute bin ich vom Schönheitschirurgen zum Traumatologen gewechselt, wobei der Traumatologe ein Kumpel des Schönheitschirurgen ist. Er diagnostizierte einen Muskelriss und schraubte mir eigenhändig die acht Euro teuren Holzkrücken zusammen. »Warum sind Sie eigentlich nicht nach Deutschland geflogen?«, fragte er, als er Schraubenschlüssel und Schraubendreher zurück in den Medizinerschrank legte. »Ihr habt doch so wunderbare Krankenhäuser. Ich habe da mal was im Fernsehen gesehen.«

Ich war mit dem Taxi zum Krankenhaus Nr. 11 gefahren und dann weiter zur Aufnahme gehumpelt. Da die Traumatologie noch einmal 200 Meter entfernt war, fragte ich nach einem Rollstuhl. Der Arzt und die vier Schwestern starrten mich fassungslos an. Der Arzt sagte, ehe er nach draußen zum Rauchen ging: »Wir verdienen so wenig, da werde ich Ihnen nicht helfen.« Ich humpelte weiter, verschnaufte hier und da, erreichte die Traumatologie und kaufte mir – Vorschrift! – für eine Griwna, fast zehn Cent, zwei Plastiktütchen. Die anderen Patienten trugen mitgebrachte Supermarktbeutel an den Schuhen, um den Gang nicht zu verschmutzen.

»In drei Tagen kommen Sie wieder«, sagte mein Traumatologe und brachte mich zur Tür. »Dann machen wir den Gips.«

Ich dachte an den Schönheitschirurgen, der meinen Muskelriss übersehen hatte, an die fünf Spritzen und die Einstichlöcher, schaute meine Krücken genauer an, die unbestreitbar Weltkriegsniveau haben, bekam plötzlich Angst und fragte: »Muss der Gips wirklich sein?«

»Vertrauen Sie mir«, sagte der Doktor. »Gips ist international.«