15.09.08

Christoph Wesemann

Adolf Hitler und meine Spiegel-Affäre

Mein Freund Oleg ist ein angenehmer Beifahrer. Man darf bei ihm praktisch alles. Oleg hat die Gabe, augenblicklich zu erblinden vor Einbahnstraßen, Stoppschildern und roten Ampeln. Meinen Atem, der beschleunigt, wenn ich am Steuer nicht ganz legal handele, hört er dafür umso schärfer. »War irgendwas, Kolumnist?«, fragt er dann. »So lange ich nichts sage, ist alles in Ordnung.« Die ersten vier Wochen bin ich nur mit Oleg Auto gefahren. Es gab für mich im Grunde keine Verbote, abgesehen von: »Lass die Lücke nicht so groß werden! Sonst springt einer rein.« Man kann sagen: Oleg hat mich als Verkehrsteilnehmer in Odessa versaut. Ich bin von ihm ukrainisiert worden.

Illustration von Martin Rathscheck

Illustration von Martin Rathscheck

Seit sechs Tagen fahre ich allein. Gestern habe ich zum ersten Mal gehupt, obwohl nur jemand Rücksicht nahm auf andere. Ich selbst werde kaum mehr bedrängt, was als Mensch nicht unbedingt für mich spricht, als Fahrer allerdings schon. Dass ich Gebote noch halbwegs beachte und mich kontrolliert offensiv fortbewege, liegt daran, dass vor zwei Wochen ein Nachbar den linken Autospiegel abgetreten hatte. »Ihr Nazis habt meinen Opa umgebracht«, schrie er, was juristisch bestimmt nicht ganz sauber formuliert ist, historisch-moralisch aber irgendwie hinkommt. Andererseits ist mir am nächsten Tag, während ich in einer Verhörzelle des Polizeireviers den Mann anzeigte, eingefallen, dass es das Wort »Vergangenheitsbewältigung« nur in der deutschen Sprache gibt. Im Gang schnarchten zwei Blutverschmierte ihren Rausch aus. Ich dachte an Adolf Hitler und sah braune Flecken auf meinem Hemd.

Ein paar Tage nach unserer Anzeige, an deren Nutzen wir bereits gezweifelt hatten, weil nichts geschah, bestellte uns ein Polizist zu sich. Nein, er bat um einen Besuch und erklärte sich bereit, zu uns zu kommen, als wir den Termin verschieben wollten. Zehn Minuten später saß er mit einem Kollegen an unserem Küchentisch. Noch einmal zehn Minuten später hatten wir vom Täter das Geld für die Reparatur erhalten und im Gegenzug die Anzeige zurückgenommen.

Es ist nur ein Verdacht, ich kann es nicht beweisen, aber ich bin ziemlich sicher, dass der Nachbar den Polizisten eine Aufwandsentschädigung gezahlt hat und deshalb noch vor ihrem Feierabend dieses Problem mit den Deutschen in den Papierkorb gelangen musste. Nur so kann ich mir den plötzlichen Eifer erklären. In der Ukraine ist nichts umsonst.

Ich habe im Skoda-Autohaus einen neuen Spiegel bestellt, er wird direkt vom großen Werk in Bratislava nach Odessa geliefert - ich glaube: von einem Fahrradkurier, der einen schönen Gepäckträger hat, vielleicht sogar einen Korb, aber nicht viele Gänge. Es dauert jedenfalls. Ich hatte gedacht, es könnte ein Problem sein, ohne den Spiegel zu fahren. Dann kam Oleg, der staatlich ungeprüfte Schadensgutachter. »Fährt die Kolumnistenkarre nicht ohne das Ding?«, hat er gefragt. »Na siehste! Mein Bruder braucht die Spiegel nur, wenn ihm eine Frau auf dem Fußweg zu sehr gefällt. Aber du bist ja verheiratet. Los, fahren wir ans Meer.«