16.08.12

Christoph Wesemann

Diego und die Holzfäller

Ich war acht Jahre alt und ganz sicher nicht einmal der klügste Achtjährige in meiner Straße, und ich bin nicht in einer Straße wie der Avenida Rivadavia aufgewachsen, die 35 Kilometer lang ist. Meine Straße hieß Ipser Weg. Kürzer geht's kaum. Vielleicht erklärt das, was jetzt kommt.

Das erste Mal habe ich von Argentinien am 29. Juni 1986 gehört. Ich weiß das genau, obwohl seitdem ordentlich Zeit vergangen ist – wie viel genau, spielt jetzt keine Rolle, bitte. Ich saß an diesem Sonntagabend vor dem Fernseher, bestimmt trug ich einen gestreiften Schlafanzug, und die deutsche Nationalmannschaft stand gegen Argentinien im Endspiel der Fußballweltmeisterschaft in Mexiko. Wahrscheinlich habe ich damals »BRD« gesagt. Meine Heimat war die DDR, und wer in der DDR lebte, der sagte auch »BRD«, nicht »Bundesrepublik« und nicht »Deutschland«.

Argentinien jedenfalls hatte Diego Armando Maradona, das Jahrhunderttalent, den besten und genialsten Spieler der Welt. Deutschland hatte ein paar Holzfäller. Sie spielten nicht nur so, sie sahen auch so aus. Und ihre Namen klingen heute, als wären sie unter Tage abgebaut und dann geschmiedet worden. Briegel. Förster. Eder. Jakobs. Hans-Peter. Karlheinz. Norbert. Ditmar. Abwehr made in Germany.

Ich war für die Holzfäller.
Ich war gegen Diego.

Rudi Völler schoss in der 81. Minute das Tor zum Ausgleich. Gerade hatte Argentinien noch 2:0 geführt, nun stand es auf einmal 2:2, und ich wusste ganz genau, wer gewinnen würde. Dann passte Maradona auf Burruchaga.

Argentinien ist mir danach immer wieder begegnet, und zwar alle vier Jahre, bei einer Weltmeisterschaft. Wie das Land spielte, war mir egal, glaube ich. Ich mochte andere Mannschaften, meistens Brasilien, wahrscheinlich habe ich so unbewusst überkompensiert. Eine größere Abkehr von den Holzfällern ist ja kaum vorstellbar.

Zum ersten Mal war ich im Sommer 2006 für Argentinien. Ich hatte eine Karte für das Viertelfinale gegen Deutschland, ich stand im Berliner Olympiastadion in der argentinischen Kurve und erlebte, wie ein paar Tausend Männer 120 Minuten lang toll sangen und dann kaum weniger schön heulten. Ich hatte einen Argentinienhut auf, den kein Argentinier weit und breit trug, und das nicht nur, weil es in ihrer Heimat kein »H&M« gab.

Den Hut habe ich irgendwann verloren. Und »H&M« gibt es heute, sechs Jahre später, noch immer nicht in Argentinien.

Als es neulich kein warmes Wasser gab, weil irgendetwas im Keller kaputtgegangen war, schien mir, als hätte unser Portier Luis Angst, dem Deutschen die Nachricht zu überbringen. »Unser Portier Luis«, das klingt ein bisschen nach Kolonialzeit, claro. Aber zum einen ist Luis eher eine Art Hausmeister, zum anderen gibt es im Zentrum von Buenos Aires kaum noch Wohnhäuser ohne einen Mann, der die stets verschlossene Eingangstür im Blick hat. Um Luis zu beruhigen, erzählte ich, dass ich mal eine Weile in der Ukraine gelebt hätte.
»Ukra ... cómo?«, fragte Luis.
Weil mein Spanisch noch nicht reicht, um einem Argentinier die Ukraine vorzustellen, machte ich kurzerhand die Unabhängigkeit von 1991 rückgängig und schlug das Land wieder Putins Reich zu.
»Oh«, sagte Luis, »Russland.«
»Ja, und Russland in Wasser sehr kalt.«

Wenn ich mich nicht täusche, hält er mich seitdem für einen Eisbär auf zwei Beinen, für jemanden, der sich gern mit Schnee wäscht, in Bergseen mit bloßen Händen Forellen fängt und hilft, wenn ein Mieter Ärger macht. In Wahrheit habe ich innerlich geflucht, eine eiskalte Dusche am Morgen bleibt eine eiskalte Dusche am Morgen. Die wird auch nicht wärmer, weil man in zwei Jahren Odessa fünfmal nicht heiß geduscht hat.

Oder aber Luis denkt: »Spanisch lernt der Kerl nie.«

In meinem Sprachkurs sind drei andere Jungs: ein australisches Brüderpaar und Salim, ein Amerikaner, dessen Eltern in den Siebzigern aus Indien eingewandert sind. Er steht auf Trance-Musik und ist trotzdem der Schlaueste von uns vieren. Salim löst die Aufgaben, die wir gar nicht lösen müssen, weil er die Aufgaben, die wir lösen müssen, schon lange fertig hat, während die beiden Australier und ich noch wild raten. Wenn ich zufällig zwei Minuten vor den Australiern fertig bin, erhole ich mich von den Strapazen und glotze an die Decke. Sollte ich ehrgeiziger sein? Strebsamer? Ich meine: als Deutscher?

Dafür bin ich der, über dessen Scherze und Sprüche am meisten und am lautesten gelacht wird. Ich gebe mir Mühe. Witzig zu sein ist für mich eine ernste Angelegenheit. Überdies warte ich jeden zweiten Tag ein paar Minuten vor dem Unterrichtsraum, um mich zu verspäten. Mehr kann ich aus der Ferne für Deutschland nicht tun.

Mal angenommen, Deutschland hätte das Endspiel gewonnen. Maradona, neben Pelé der Beste, der sich im Fußball bisher versucht hat, wäre also 1986 nicht Weltmeister geworden. Gewonnen hätte ja nicht nur eine Mannschaft mit einem Durchschnittsalter von 28,37 Jahren, die sich durchs Turnier gerumpelt und geduselt hatte: 1:1 gegen Uruguay, 2:1 gegen Schottland, 0:2 gegen Dänemark, 1:0 gegen Marokko, 4:1 nach Elfmeterschießen gegen Mexiko, 2:0 gegen Frankreich. Gewonnen hätten Rummenigge, der nur noch humpelte, ein Hoeneß, der nicht Uli heißt, die Holzfäller.

»Bitte begrüßen Sie unsere vier Weltmeister von 1986: Karlheinz Förster, Hans-Peter Briegel, Norbert Eder und Ditmar Jakobs.« (Applaus, Fußgetrampel)

Und zum WM-Kader gehörten noch Uwe Rahn, Wolfgang Rolff und Matthias Herget. Ja, der Herget von Bayernullfünf, nein, nicht Bayernullvier, also nicht Leverkusen, sondern Uerdingen (sprich: Ör-ding-en, Dudenlautschrift: ˈyːɐ̯...).

Sie alle wären heute Weltmeister. Und Maradona, der Goldjunge aus einem Elendsviertel am Rande von Buenos Aires, den sie hier verehren, der seinen Trainer Carlos Bilardo einst dazu brachte, Gott zu danken, weil der Diego als Argentinier auf die Welt geschickt hat? Der wäre es nicht.

Kein Weltmeister.

Wer außer mir, einem Achtjährigen aus dem Ipser Weg, wer um alles in der Welt kann so etwas damals noch gewollt haben?