26.08.08

Christoph Wesemann

Zukunft in Zeiten der Humorinflation

Wenn ich in Odessa anders Geld verdienen müsste, weil zum Beispiel die Kolumnenkonjunktur eingebrochen ist oder wegen der Humorinflation alle am Abend geschriebenen Scherze über Nacht nur noch halb so witzig wären, fiele mir manches ein. Zum einen würde ich mich als Herrenfriseur niederlassen, weil sich meines Wissens niemand so oft und so schlicht die Haare schneiden lässt wie ein Ukrainer. Nachdem ich an meinem Sohn ein paar Mal die Tücken des Langhaarschneiders ausprobiert hätte, könnte ich meinen Salon eröffnen.

Zum anderen würde ich Wein vertreiben, dessen Wirkung einigermaßen zu kalkulieren ist. Alle Weine, die ich in Odessa kaufe, haben da Defizite. Die einzige zuverlässige Zahl steht auf dem Preisetikett am Flaschenhals. Was den Alkohol betrifft, muss man sich mit der Angabe »9-13%« begnügen. Vielleicht ist das auch ein raffinierter Trick, um niemanden auszuschließen, weder die Frau, die nippt, noch den Mann, der kippt. Der Mensch bildet sich ja vieles ein, Verliebtheit, Intelligenz, Schönheit zum Beispiel, sogar dass man sich etwas bloß einbildet, kann man sich einbilden; die Philosophen sagen, das meiste im Leben ist ohnehin subjektiv, Objektivität gibt es gar nicht, hat es nie gegeben, wird es nie geben, wenn ich den aktuellen Forschungsstand mal zusammenfasse. Odessas Weine sind, philosophisch betrachtet, im Innersten also ehrliche Weine.

Andererseits frage ich mich, was der Leser dächte, wenn in meiner Vita stünde: »Alter: 29-33« oder »Abiturnote: 1,5-4,4« oder »Kinder: 0-5«. Wäre ich dieser Leser, würde ich meine Kolumne unter Umständen wegklicken. Wie soll man mitfühlen oder sich gar identifizieren mit einem Mann, von dem man nicht weiß: guter oder schlechter Kolumnistenjahrgang, Streber oder Depp, Nachwuchsverhüter oder -produzent?

Illustration von Martin Rathscheck

Illustration von Martin Rathscheck

Herrenfriseur oder Weinhändler – so sähe meine Zukunft in Odessa aus. Noch lieber würde ich selbstständiger Fremdgewichtbestimmer werden, auch weil ich als Brillenträger darauf angewiesen bin, dass mir attraktive Frauen ein bisschen entgegenkommen. Aber dieser Markt ist schon aufgeteilt in Odessa. Überall in Strandnähe sitzen Männer mit einer alten Waage, wie sie bei Oma unter der Badewanne steht. Ich hätte es nicht geglaubt, wenn mir im Existenzgründerseminar diese Karriere empfohlen worden wäre, aber die Geschäfte gehen ausgezeichnet. Die Stammkundschaft sind Muskelmänner und Bikinischönheiten. Manche steigen zu jeder vollen Stunde auf die Waage und reiben sich vorher die Schweißperlen von der Haut. Einmal wiegen kostet 50 Kopeken, umgerechnet 7,5 Cent.

Wahrscheinlich braucht der Mensch Verlässliches, er sucht das Objektive und findet immerhin Zahlen, Prozente, Gewichte, er will mehr verstehen – von der Welt, die er sieht, vom Körper, den er bräunt und trainiert, vom Wein, den er trinkt. Um sicher verstanden zu werden, habe ich diesmal nachgezählt: Diese Kolumne hat 428 Wörter und 2890 Zeichen.