11.11.07

Katrin Wiegand

Vom Main an die Spree – Teil 2: Hilfe, wieviele Monate und Tage sind 0,66 Jahre genau?

Er ist vollbracht, der Umzug. Fanfarentöne sind zu hören, Kinder schwenken Fähnchen und Konfetti rieselt aus dem bewölkten Himmel. Ein sehr bewölkter, grauer Novemberhimmel.
November?
Himmel!
Der Umzug ist ja schon über zehn Monate her. Schnell den Kindern die Fähnchen weggenommen, das Konfetti aufgekehrt und in die Trompeten gestopft. Schnauze jetzt. Hat keiner gemerkt.
Da wohne ich tatsächlich schon seit über zehn Monaten in Berlin.
In Charlottenburg.
Das muss man immer dazu sagen. Wenn ich irgendjemandem in den letzten Jahren erzählt habe, dass ich in Frankfurt wohne (was ich gar nicht getan habe, was aber deutlich schneller erklärt ist als umständlich »ja, da so nördlich von Frankfurt, so zwischen Frankfurt und dem Taunus« zu stammeln, blieb es oft bei in Frankfurt), also wann immer ich als Wohnort »Frankfurt« angab, war das stets völlig ausreichend. Ab und zu, aber seltener, als vermutet, kam die Nachfrage: Main oder Oder? Aber dabei blieb es dann.
Und heute?
Ich übertreibe nicht: neun von zehn Leuten, denen ich von meinem Wohnort erzähle, fragen: »Und wo in Berlin?«

Selbst Menschen, die nie auch nur in die Nähe der Stadt gekommen sind und sie allenfalls aus dem Fernsehen kennen (der Berlin-Tatort mit Dominic Raake und dem Kleinen mit dem Namen, den ich mit Sicherheit falsch schreiben würde, zum Beispiel), selbst solche Leute fragen mich nach dem Stadtteil, und nicken dann wissend, wenn ich ihn aufsage. Sie würden genauso wissend nicken bei »Mitte«, »Wedding«, »Prenzlauer Berg« oder jedem anderen Stadtteil, da bin ich mir sicher. Obwohl, die Nennung von »Kreuzberg« oder »Neukölln« würde eventuell noch Reaktionen hervorrufen, wie »ach, ist das nicht gefährlich da?«
Soviel weiß man schließlich auch aus den Medien.
Man ist ja informiert.
Tja, zum Thema Frankfurt wollte nie jemand wissen, ob »Westend«, »Bornheim«, »Höchst« oder »Sachsenhausen«?
Mysteriös. Man sollte eine Umfrage beauftragen bei Leuten, die sowieso ständig Umfragen machen und damit Statistiken erstellen, die die Menschheit so dringend braucht wie elektrische Regensensoren an Autos und die zu Ergebnissen kommen wie »51 Prozent aller Männer unter 45 stehen mit dem linken Fuß zuerst auf«.

Dazu sollte erwähnt werden: Ich bin ein mathematisch gänzlich unbegabter Mensch und beäuge Statistiken daher grundsätzlich skeptisch. Ich halte mich an die bekannte Weisheit: Schießt der Jäger einmal links am Hasen vorbei und einmal rechts, ist der Hase statistisch gesehen tot.

Es gibt aber Statistiken, die nachdenklich stimmen. Zumindest sollten sie das. Vor kurzem gab es auf spiegel.de eine Statistik zur Lebenserwartung in den einzelnen Bundesländern. Ein Mädchen, das heute in Hessen geboren wird, hat demnach eine Lebenswartung von 82,23 Jahren. Erblickt die kleine Anna-Lena, Jasmin-Marie oder Jacqueline (sprich: Schackeline) jedoch in Berlin das Licht der Welt, wird sie voraussichtlich nur 81,57 Jahre alt.

Und hier lassen uns die Wissenschaftler wieder im Stich: was ist denn mit mir, möchte ich ihnen gegen den sauberen weißen Kittel schreien? Was ist mit dem Mädchen, das vor 35 Jahren in Hessen geboren wurde, aber seit etwas über zehn Monaten nun in Berlin lebt? Wie alt werde ich? Soll ich mir schonmal Gedanken machen, wer meine 98 Drei ??? – Kassetten erbt, oder kann ich noch jahrelang frohgemut am Tiergarten vorbeiradeln, auf den übrigens vorbildlich ausgebauten Radwegen Berlins?

Und was sagen diese Zweiundachtzigkommablumenkohl überhaupt über die Lebensqualität aus? Lebt ein Kind unter Bembel- und HitRadio FFH-Einfluss seine zusätzlichen 0,66 Jahre denn auch wirklich schön und zufrieden? Beißt das Weiße-mit-Schuss- und RadioEins-Mädel zwar gute sieben Monate früher, aber dafür auch entspannter und mit vielen Lachfalten verziert ins Gras, während das hessische Girlie seine zusätzliche Lebenszeit hart und unter Entbehrungen erarbeitet hat?

Darüber schweigt die Wissenschaft.
Typisch.
Vielleicht lässt sich die verkürzte Lebenszeit der Berliner auch durch vermehrten Stress erklären, dem sie durch den täglichen Balanceakt ausgesetzt sind, den es erfordert um würdevoll und graziös um die zahlreichen Hundehaufen auf den Gehwegen herumzutänzeln?
Aber das ist wieder ein ganz anderes Thema...
Dazu dann demnächst mehr, ich muss jetzt erstmal meine Schuhe in der Badewanne schrubben.

Lesen Sie weiter in Teil 3: Spree ade