11.11.09

Katrin Wiegand

»Schreibtisch« kommt von Schreiben ... und ein wenig von Tisch.

Die Buttermilchreste im Glas sind schon angetrocknet. Ich versuche, den Löffel aus dem Glas zu nehmen, aber er ist festgeklebt. Das Glas steht vor dem Drucker, ein Billig-Modell, das nicht einmal mehr funktioniert, nachdem die Katze es hinunter geworfen hat. Hinter dem verstorbenen Drucker finden sich Staubflusen. Überhaupt ist alles sehr staubig. Unter einem geschickt aufgehäuften Berg aus Werbebroschüren für Katzenfutter, CD-Hüllen, Kontoauszügen, Fotos, aufgerissenen Briefumschlägen, Rechnungen, Mahnungen, zweiten Mahnungen und letzten Mahnungen sowie sinnfrei bekritzelten Zetteln lugt ein Topflappen hervor. Das kommt davon, wenn man seine Mahlzeiten unkultiviert am Schreibtisch einnimmt.

Links vom Topflappen steht ein Döschen mit Vitaminpillen. Nein, nicht Vitamine – Magnesium ist darin, und Kalzium und Zink. Gut als Erkältungsvorbeugung. Erkältungen versuche ich zu vermeiden, wenn es geht. Erkältet sein bedeutet: Enormer Verschleiß an Taschentüchern. Ich habe keine Taschentücher. Der Supermarkt hat Taschentücher, aber der Supermarkt hat auch so viele andere Dinge, dass ich es nie im Leben schaffe, NUR mit Taschentüchern da heraus zu gehen, also bleibe ich lieber gleich hier und schnäuze ins Toilettenpapier. Wenn das irgendwann aufgebraucht ist, überlege ich mir eine neue Strategie. Neben den Pillen liegt ein Päckchen mit Foto-Stickers. So steht es auf der Packung. Das sind kleine, beidseitig klebende Plastikvierecke, mittels derer man Fotos in Alben oder wo auch immer hin kleben kann. Ich hab schon länger keine Fotos mehr irgendwohin geklebt, aber die Packung liegt hier. Daneben eine Packung mit Pflastern. Ich brauche ein Pflaster immer zum Joggen. Im linken Schuh ist eine Stelle, die drückt, wenn ich ohne Pflaster längere Zeit darin laufe. Daher das Pflaster. Ist billiger als ein Paar neue Sportschuhe.

Zwischen dem Filofax (vom letzten Jahr), den Pflastern und ein paar bekritzelten Zetteln liegt ein elfenbeinartiger Anhänger an einem Lederbändchen, ein Mitbringsel aus Neuseeland. Da wollte ich schon lange hin. Schon bevor die »Herr der Ringe«-Filme dort gedreht wurden. Aber im Augenblick ist so eine Reise weder zeitlich noch finanziell im Bereich des Machbaren, also bekomme ich von wohlmeinenden Freunden, die solche Urlaube machen können, Mitbringsel geschenkt. Der embryonal geformte Anhänger liegt da, in Reichweite eines alten Kontoauszugs, wie eine Anklage. Schau mich an, scheint er zu sagen. Ich bin einmal um die halbe Welt gereist, und ich bin nur ein poliertes Stück Walrosszahn. Und Du? Du hockst hier an deinem chaotischen Schreibtisch und hättest genug Zeit, ihn aufzuräumen oder wenigstens endlich mal mit der Arbeit anzufangen, anstatt hier Löcher in die Luft zu starren!
Ich habe keine Lust, mir von einem embryonal geformten Neuseeländischen Lederbändchen-Anhänger Vorwürfe anzuhören. Also schiebe ich ein paar Gegenstände über den Anhänger, bis ich ihn nicht mehr sehen muss. Kleinigkeit! Liegt ja genug herum.

Ich schalte den Computer an. Der Computer fährt hoch. Es ist jedesmal beruhigend, wenn er tatsächlich das tut, was er soll: hochfahren. Der Computer ist nicht mehr der jüngste und auch nicht der schnellste. Ich sehe es ihm nach, denn auch ich habe schließlich die dreißig seit langer Zeit überschritten und so schnell wie beim Sportunterricht in der 8. Klasse bin ich auch nicht mehr. Ich sehe nach, ob ich Post bekommen habe. Nein, Post sagt man ja nicht, damit assoziiert man schließlich gelbe Briefkästen und Papierumschläge. Ich schaue natürlich in meiner Mailbox nach E-Mails. Dazu muss ich meine Kennnummer eingeben und ein Passwort. Ich hab überall, wo man überhaupt nur ein Passwort haben kann, das selbe Passwort. Jeder IT-Fachmann schlägt da die Hände über dem Kopf zusammen und fängt nervös an zu stammeln und zu schwitzen, aber ich habe keine Lust es zu ändern. Erstens laufe ich dann Gefahr, es sofort wieder zu vergessen, und zweitens tippt es sich so schön, dieses Wort. Ich muss gar nicht mehr darüber nachdenken, die Finger tippen das Wort von allein. Also bleibt es dabei, sollen doch die Hacker mein Wort herausfinden. Ich betreibe zwar online banking, aber wenn ein Hacker es schaffen sollte, von meinem Konto noch Geld abzuheben, ziehe ich den Hut und frage ihn, ob wir nicht halbe-halbe machen können?

»Keine ungelesenen E-Mails«, verkündet mir mein Postfach. Enttäuschung. Niemand wollte in den letzten acht Stunden mit mir in Kontakt treten, mir eine Nachricht zukommen lassen, mich etwas fragen, mir ein albernes Bildchen schicken oder ähnliches. Wenn parallel im gleichen Zeitraum auch weder das Festnetz- noch das Mobiltelefon geklingelt haben, machen sich kommunikative Entzugserscheinungen bemerkbar. Ja, da hat sie uns hingeführt die moderne, vernetzte Welt. Früher schickte man einem lieben Menschen einen Brief, und erwartete frühestens nach zehn Tagen eine Antwort. Heute reagiert man verärgert, wenn auf die E-Mail auch nach drei Stunden immer noch nicht reagiert wurde. Bei Leuten, von denen bekannt ist, dass sie tagsüber in Büros mit permanentem Internetzugang sitzen, verkürzt sich diese Frist auf unter eine halbe Stunde. Besorgniserregend wird es, wenn man einen Anruf erhält, in dem man gefragt wird, ob man die SMS nicht gelesen habe, in der steht, dass man doch bitte seine Mails abrufen solle!
Redet heutzutage eigentlich noch irgendjemand mit irgendjemandem persönlich? Von Angesicht zu Angesicht? Bekomme nur ich ein flaues Gefühl im Magen, wenn ich drei adoleszente Damen in der S-Bahn beobachte, die offensichtlich befreundet sind, sich aber stumm gegenüber sitzen, weil jede gerade irgendwas in ihr Handy reintippt?

Gut, also keine Mails für mich. Ein Doppelklick auf das Word-Symbol. In angemessener Geschwindigkeit öffnet sich das Schreibprogramm.
Nun also. Schreiben. Das Weiß des virtuellen Papiers geht mir auf die Augen. Wenn man wenigstens ein paar Wörter hinschreiben könnte. Ich sollte ... ich muss schreiben. Nicht unbedingt, weil es mir ein inneres Bedürfnis ist. Das ist was für Schriftsteller. Ich bin Autorin. Ich schreibe im Auftrag. Natürlich mache ich das freiwillig, aber manchmal frage ich mich, wieso ich eigentlich so masochistisch veranlagt bin? Es gibt Menschen, die vom Schreiben leben und behaupten: schreiben sei ihnen eine Berufung. Schreiben mache Spaß. Dem kann ich nicht zustimmen. Schreiben macht keinen Spaß. Schreiben ist mühsam und ich versuche es weitgehend zu vermeiden. Das hat immer wieder durchwachte Nächte zur Folge, weil das Vermeiden nur insofern klappt, dass es ein Aufschieben wird. Ein Aufschieben bis zur letzten Minute. Und dann sitzen die Selbstzweifel mit auf der Schulter und beäugen kritisch den Bildschirm und flüstern mir ins Ohr: Hättest Du früher angefangen, wäre sicher etwas besseres dabei herausgekommen. Aber Du brauchst ja immer den Zeitdruck, und so ist das eben nur Mittelmaß, was Du da fabrizierst. Ich verscheuche die Selbstzweifel und rede mir ein, dass es auch mit längerem Vorlauf nicht besser geworden wäre. Und falle irgendwann übernächtigt ins Bett.

Schreiben macht keinen Spaß. Geschrieben haben – das macht Spaß! Geschrieben haben ist das wirklich tolle. Einen fertigen Text zu lesen mit dem Bewusstsein: das habe ich gemacht. Diese Worte da stammen von mir. Den Text ein halbes Jahr später wieder hervor zu kramen, ihn wieder zu lesen und überrascht zu sein: wow, das habe ich geschrieben? Mann, das ist ja doch ziemlich gut. Wie kam ich damals nur auf sowas? Warum fällt mir heute so was nicht mehr ein? Um dann neue Texte zu schreiben und ein paar Monate später wieder das gleiche Erlebnis zu haben. Das ist das eigentlich Schöne daran. Das Schreiben selbst ... da halte ich es mit dem von mir hochverehrten und viel zu früh verstorbenen Douglas Adams, der über das Schreiben meinte:
Schreiben ist ganz einfach. Man muss nur solange auf ein Blatt Papier starren, bis einem die Stirn blutet.

Gut, dass die Pflaster auf meinem Schreibtisch stehen!