21.04.08

Katrin Wiegand

Prokrastination? Gleich morgen mache ich was dagegen ...

Ich lege den Telefonhörer auf. Ein Auftrag, wie schön. Ein Kurzhörspiel, nichts großes, aber eine sehr nette Sache und es winkt eine faire Bezahlung, worüber sich das arg gebeutelte Girokonto freuen wird.
Der Abgabetermin ist in zwei Wochen, aber was soll's, frisch und voller Elan mache ich mich ans Werk, denn wer weiß, was so alles dazwischen kommt, wenn man die Arbeit vor sich her schiebt. Da will ich doch auf der sicheren Seite sein. Und je eher ich fertig bin, umso eher kann auch die Rechnung stellen. Also ziehe ich das Telefon aus der Dose, vergesse, dass ich so etwas wie einen Fernseher überhaupt besitze und mache mich an die Arbeit. Zwei Tage später ist das Werk vollendet, inklusive aller von mir mit kritischem Künstlerblick als notwendig erachteter Nachbesserungen. Der Auftraggeber staunt, als ich bereits zwölf Tage vor Abgabe liefere und beschert mir darum gleich den nächsten Auftrag. Ich bin begeistert, noch vor Jahresende werde ich mir den schon lange ins Auge gefassten Kleinwagen leisten können.
Dann wache ich auf.
Gähne, strecke mich, scheuche die Katze aus dem Bett. Was für ein schöner Traum. Nochmal in die Decke kuscheln, vielleicht träume ich ja weiter und lande schließlich beim Literaturnobelpreis ...
Nein, ein Blick auf die Uhr verrät, dass das Schlafpensum sowieso schon um zwei Stunden überzogen wurde.
Nach notwendigsten morgendlichen Verrichtungen in Bad und Küche schlurfe ich an meinen Arbeitsplatz, fahre den Computer hoch. Da starrt sie mich schon vom Desktop an: die Datei, die ich im Traum bereits fertiggestellt habe, die aber in Wahrheit schon seit einer Woche auf meinem Bildschirm ein Mauerblümchendasein fristet. Das kleine Engelchen auf der linken Schulter will mir ins Gewissen reden und mich ermuntern, am besten gleich damit anzufangen. »Je früher heran, desto eher getan« wispert es. Doch kaum hat es diese Weisheit beendet, wird es vom Teufelchen, das von der anderen Schulter herübergekrabbelt ist, mit einem Baseballschläger durch den Raum gepfeffert. »Ach, was soll's, du hast doch noch eine ganze Woche Zeit, keine Hektik. Es gibt noch so viele andere Dinge, die du tun kannst«, flüstert es. Das Teufelchen klingt ein wenig wie Martin Semmelrogge. Aber es ist sehr überzeugend.
Ohja, viele andere Dinge kann man tun. E-Mails lesen, zum Beispiel. Das nimmt genau zwei Minuten in Anspruch. So lange dauert es, bis das E-Mail-Programm geöffnet und die Spam-Mails gelöscht sind. Nun gut, wenn mir keiner schreiben will, schreibe ich halt. Wahllos werden nicht vorhandene Neuigkeiten in epischer Breite an lang vernachlässigte Bekannte gemailt.
So. Nachdem ich zum Schluss noch meine drei Monate zurückliegende Grippeerkrankung meiner ehemaligen Kindergartenspielgefährtin ausführlich geschildert habe, entsteht ein kurzer Moment der Leere. Das Engelchen will schon hoffnungsvoll von der anderen Ecke des Raumes herüberkriechen, doch es bekommt einen erneuten Schlag versetzt. Wozu gibt es das Internet? Wozu hat bitte irgendjemand Seiten wie Youtube, Xing, StudiVZ oder Spiegel Online erfunden, wenn nicht zu dem Zweck, Menschen wie mich, also Menschen mit angeborener und chronisch-schwerer Aufschieberitis von ihren eigentlichen Pflichten abzulenken?
Heitere drei (in Zahlen: 3) Stunden verbringe ich nun auf oben genannten und noch weiteren Internetseiten. Als ich mich dabei ertappe, bei youtube den Namen »Howard Carpendale« einzugeben, bemerke ich, dass ich ein Problem habe.
Nämlich Hunger.
Längst ist es Zeit zum Mittagessen. Gut, andere Leute mögen um drei Uhr nachmittags Kaffee und Kuchen zu sich nehmen, mir doch egal. Der Kühlschrank ist prallgefüllt, aber für das Standard-Essen »Reis mit Scheiß« (Also Reis plus x in einer Pfanne, wobei x für den restlichen Inhalt des Kühlschranks steht) fehlt mir Mais. Ohne Mais geht gar nichts. Also wird der Gang zum Supermarkt um die Ecke unabdinglich. Danach fange ich dann auch gleich mit dem Schreiben an.
Wirklich. Nur schnell 'ne Dose Mais holen.
Eine Stunde später kehre ich ächzend mit einem vollen Rucksack und zwei nicht minder vollen Plastiktüten bepackt zurück. Bis das alles verstaut ist, ich mich von der anstrengenden Tour kurz (d.h. genau eine Folge »King of Queens« lang) erholt habe, meine Mahlzeit zubereitet und gegessen habe (zu zwei Folgen »Hör mal wer da hämmert«), ist es schon 19 Uhr geworden.
Jetzt aber an den Computer. Als sei mein Schreibtischstuhl eine Sprungfeder, stehe ich im gleichen Moment, in dem ich mich niedergelassen habe auch schon wieder auf. Die Katze hat gejault. Sie hat Hunger. Das arme Tier. Pflichtbewusst füttere ich mein Haustier. Wie sieht eigentlich das Katzenklo aus?
Als das Katzenklo sowie der Rest des Badezimmers zumindest oberflächlich gesäubert sind, ist es bereits kurz vor acht.
Jetzt aber.
Der Rechner ist immer noch an. Jetzt also die Datei öffnen. Da steht sie, die Überschrift. Seit einer Woche ganz allein auf dem ansonsten weißen Eingabefeld. Einmal ausatmen, und dann – erst noch mal nach Mails schauen. Seit heute mittag kann sich viel getan haben. Tatsächlich, zwei Mails erhalten. Wie schön. Man denkt an mich.
Nachdem die gelesen und beantwortet sind, schaue ich schnell noch mal beim StudiVZ nach, ob jemand in der Gruppe »Ich werde nichts mehr aufschieben und fange nächste Woche an« wieder einen Beitrag geschrieben hat.
Als ich noch ein paar Spiegel-Online-Artikel von vor einer Woche aus dem Archiv gekramt und gelesen habe, schließe ich alle Browserfenster und wende mich wieder meiner Arbeit zu.
So. Kreativität. Jetzt!
Mein Blick fällt auf die Uhr. Oh, gleich viertel nach 9, und heute ist Dienstag. »Dr. House« fängt gleich an!
Ich versuche mich beim Fernsehschauen nicht ablenkenzulassen vom Anblick der hinteren Zimmerecke, wo sich das Engelchen mittlerweile erhängt hat.

Auf die Art und Weise kann man schon mal zwei Wochen verbringen, und schließlich lässt es sich nicht mehr abstreiten: ich habe keine Zeit mehr. Also sitze ich am Abend vor dem Abgabetermin wie festgetackert am Schreibtisch und tippe mir die Finger wund. Morgens um 5 habe ich ein Ergebnis, was man immerhin als annehmbar bezeichnen kann. Also, könnte, aber in diesem Augenblick bin ich zu keiner differenzierten Meinung mehr fähig. Ich stelle mir den Wecker auf 9 Uhr morgens, schlurfe nach knapp 4 Stunden Schlaf wieder an den Rechner und lese mir durch, was mein übernächtigtes Hirn gestern noch zustande gebracht hat.
Hm. Hier hätte man den Bogen doch anders spannen können ... Stimmt das da eigentlich? Verdammt, das müsste man eigentlich genauer recherchieren ... Was wollte ich mit diesem Satz sagen?
Keine Zeit, keine Zeit. Der sinnlos erscheinende Satz wird ersatzlos gestrichen, der Rest wird mit dem Gefühl, man hätte es noch viel besser machen können, hätte man nur zeitig angefangen, weggeschickt.

Zwei Tage später die Rückmeldung des Auftraggebers. Das Werk wurde positiv aufgenommen. Ich darf eine Rechnung schreiben. Ach ja, und der nächste Auftrag liegt auch schon an.
Meine erste Frage: Bis wann muss es fertig sein?
Drei Wochen? Ja, super.
Diesmal fange ich sofort an.
Also, morgen. Heute kann ich nun wirklich nicht ... gleich kommt die 400. Wiederholung von »Das Apartment« im Fernsehen.
Aber danach sofort!

Hör auf zu grinsen, du scheiß Teufel!