18.08.03

Magdi Aboul-Kheir

Mein Fahrstuhl zum Schafott

Ist es zuviel von einem Fahrstuhl verlangt, dass er bis zehn zählen können sollte? Oder bis zwölf, wenn das Haus so viele Etagen hat?

Offenbar ja. Zumindest, was den Aufzug in unserem schäbigen Wohnblock betrifft. Fa. Gotthilf Bauer & Co. Augsburg, Baujahr 1956, Tragfähigkeit 525 Kilo oder sieben Personen. Charakter verschlagen, bösartig, hinterlistig.

Mehrmals täglich bin ich auf Gotthilfs Dienste angewiesen, zuckle vom neunten Stockwerk hinunter ins Erdgeschoss und später wieder hinauf. Das heißt, ich versuche es. Denn der Aufzug widersetzt sich jüngst immer heftiger meinen Anweisungen per Knopfdruck.

Ich steige im Parterre ein, drücke auf die Neun – und Gotthilf fährt unbeeindruckt durch bis in die zehnte Etage. Wenn ich dort dann erneut auf die Neun tippe, tut sich nichts. Es ruckelt nicht einmal. Ich steige also aus und laufe die Treppen den einen Stock hinunter. Das sollte ich ja ohnehin machen, werden nun stufengeile Sportfetischisten einwenden, aber bitteschön – neun Stockwerke! Außerdem geht es ums Prinzip. Das Prinzip, dass ein metallener Kasten mit einer simplen elektrisch-mechanischen Steuerung dort anzuhalten hat, wo ich, der Mensch, sein Erfinder, sein Konstrukteur (also nicht ich als solcher, aber als Gattung) ihm das befehle.

Regelmäßig werde ich also in den zehnten Stock transportiert. Natürlich bin ich nicht doof, und drücke daher stattdessen nicht mehr auf die Neun, sondern auf die Acht. Gotthilf fährt in die achte Etage. Ich verliere die Nerven, drücke auf die Neun und fahre in den Zehnten. Wohin denn sonst. Ich meine, im Aufzugschacht die Seile und Scharniere hämisch lachen zu hören.

Es geht ja nicht nur um mich, in unserem Haus wohnen viele ältere Menschen. Frau M., meine Nachbarin, ist 91 und zunehmend tagesformabhängig. Was passiert, wenn sie an einem tattrigen Tag ahnungslos im zehnten Stock aussteigt, zu der Wohnungstür geht, die sie mit ihren schwachen Augen für die ihre hält, und dort verzweifelt denken muss, ihr Schlüssel sei kaputt?

Der Monteur sagt mir lapidar und borniert, der Fahrstuhl sei nunmal alt. Baujahr 1956, was ich da noch erwarte. Ich erwarte, in den neunten Stock gefahren zu werden. Überhaupt, was soll diese Feststellung, Gotthilf sei alt? Mein Vater ist auch alt, und wenn er mit dem Auto jemanden besuchen fährt, der in Hausnummer 56 wohnt, hält er auch nicht vor der 54 oder der 58 oder der 80. Das heißt, tut er doch, aber das ist eine andere Geschichte.

Gotthilfs Widerspenstigkeit hat noch einen anderen Aspekt. Ich kann ihn nicht mehr rufen. Wenn ich ihn, im neunten Stock stehend, anfordere, fährt er einfach an mir vorüber und wartet seelenruhig und nichtsnutzig im zehnten. Aus dem Schacht dringt wieder leises Gelächter. Dann laufe ich die Treppe hinauf, und wenn ich oben bin, ist Gotthilf schon weg, von einem anderen Hausbewohner gerufen. Ich blicke durch den Glasschlitz in der Tür, und meine ihn knapp unter mir stehen zu sehen, im Neunten. Aber das kann nicht sein.

Wenn ich jetzt arbeiten gehe, drücke ich auf den Ruf-Knopf und springe sofort die Stufen in den zehnten Stock hinauf. So weit hat er mich schon.

Wenn ich jetzt nach Hause komme, drücke ich von mir aus auf die Zehn, steige dort aus (nicht im Elften, immerhin!) und trotte den einen Stock wieder runter. So weit hat er mich schon.

Neulich verlasse ich die Wohnung, und Gotthilf steht da. Wie ihn jemand in den neunten Stock gelotst hat, ist mir ein Rätsel. Ich wittere eine Hinterlist. Aber da ist er, und er wartet auf mich. Doch ich steige nicht ein, sondern drücke in einem Anflug subversiver Freude auf den Ruf-Knopf. Die Innentür gleitet zu, Gotthilf entschwebt in den Zehnten. Meine Frau findet mich Minuten später weinend im Flur. Warum ich nicht in die Arbeit gehe. Sie drückt auf den Knopf, der Lift kommt angefahren, als ob nichts wäre, hält dienstbeflussen, wir steigen ein, fahren hinunter. Ich traue mich nicht, meiner Frau von der Fehde mit Gotthilf zu erzählen.

Da hilft nur noch die Kneipe. Ich beschließe, am Abend auszugehen. Ich steige per pedes die Treppen herunter. Ich lass mich doch nicht von einem dämlichen Lift demütigen. Neun Etagen zu Fuß, vielleicht hauen dann auch deswegen die Biere so kräftig rein. Spät in der Nacht wanke ich völlig breit nach Hause. Ich steige in den Fahrstuhl, bin so prall, dass ich einfach auf die Neun drücke. Alles dreht sich, verschwimmt. Ich steige aus, wanke die Treppe automatisch in den neunten Stock hinunter, zu unserer Wohnung. Der Schlüssel passt nicht. Ich bohre und drücke und fluche, er passt nicht. Ich läute Sturm, meine Frau soll mir öffnen. Die Tür geht auf, da steht Herr P., schlaftrunken, stinkend und stocksauer, ob ich den Verstand verloren habe. Ich nicke. Herr P. wohnt im achten Stock.