16.06.11

Meike Haberstock

Krank

Mein Freund, mein Sohn und ich wohnen zur Miete.
Die Wohnung ist recht groß, die Miete fürs Ruhrgebiet erstaunlich klein und manchmal sind wir sogar recht glücklich hier. Trotzdem befällt uns rücklings in regelmäßigen Abständen der hinterlistige Eigentums-Erwerbs-Erreger.

Anscheinend sind wir beide besonders gefährdet, jetzt, Mitte/Ende 30.
Ähnlich wie Freunde und Bekannte im vergleichbaren Alter.
Übertragen wird der Erreger durch Gespräche mit Mitdreißigern auf kleinen Holzstühlchen an Elternabenden die über Immobilien reden, durch Fernsehsendungen wie »Wohnen-Kaufen-Hoch verschulden« auf Privatsendern und jahrelanges Indoktrinieren der LBS-gesponserten Medienberichterstattung.

Anfang 20 war ich noch völlig resistent bei Worten wie »Eigenkapital«, »Altersvorsorge« und »Grundbucheintragung«, heute befällt mich regelmäßig nervöser Aktionismus und das Einrichtungsfieber.

Der Virus zeigt sich anfangs in kleinen Details, fast unschein- und unbemerkbar für Außenstehende. Sonntags finden wir uns urplötzlich mit dem tropfenden Eis in der Hand vor den Immobilien-Schaukästen der lokalen Banken wieder und vergleichen Wohnflächen/Nutzflächen-Verhältnisse, Provisionsgrößen und Ausstattungsdetails miteinander. Mit gefährlichem Halbwissen ausgerüstet bilden wir uns eine Meinung, finden manche Sachen gut, das meiste blöd und überhaupt alles viel zu teuer.
Dann lecken wir das geschmolzene Eis an unseren Händen ab und gehen zufrieden in unsere Mietwohnung.

Vor ungefähr einem halben Jahr fuhr unser Wagen allerdings fast wie von allein nach einem Besuch bei meinen Eltern (Eigenheimbesitzer) in ein großes Neubaugebiet in einer Kleinstadt nahe dem Ruhrgebiet. Bezahlbare Grundstückspreise, viele Fahrradwege und Menschen mit Kundenkarten für den lokalen Baumarkt prägten das gepflegte, überschaubare Stadtbild.
Auf meine Frage, ob er diese Adresse ins Navi eingegeben hätte, antwortete mein Freund nur, dass er sich an nichts erinnern könnte, wir aber, jetzt, da wir ja schon mal da seien, auch mal gucken könnten.

Amnesie & Verleugnung – typisch für den Erreger.

Wir fuhren mit Tempo 5 an fertigen Häusern und noch fertigeren Eigenheimbesitzern vorbei, begutachteten aufgeschobene Erdhügel, bunte Baukräne und zugemüllte Baulücken und fühlten uns fast wie auf einer Safari.
Wir blickten raus aus dem Auto, die anderen blickten rein ins Auto und keiner wusste so recht, wer mehr Angst haben sollte. Die da draußen vor den glotzenden Städtern im dicken Wagen mit viel zu viel PS für diese Spielstraße oder wir da drinnen vor den mit Schippen, Harken und Pflasterhämmern bewaffneten Menschen in Arbeitskleidung, die am Samstagnachmittag die eigene Schollenzuwegung bewirtschafteten.

Jägerzäune wurden gesetzt, Hausnummern an die Klinkerfassade geschraubt, Betonfundamente für Carport-Pfosten gegossen. Ein paar traurige Heckenpflänzchen wurden eingebuddelt und hier und da konnte man erahnen, dass männliche Schuldner darüber nachdachten, ob es richtig war, genau hierfür 350.000 EURO aufzunehmen – und nicht doch lieber für diese Art von Wagen, der da an der Einfahrt vorbeifuhr. Den musste man zumindest nicht wöchentlich stutzen und der hatte auch nur Platz für 2 Kinder – und keine Ausbaureserve im Kofferraum, die noch angegangen werden musste, wenn Einfahrt, Terrasse und Gäste-WC fertiggestellt waren.

Unser Sohn fragte, warum alle Erwachsenen hier so traurig aussahen – im Gegensatz zu den Kindern, die sich mit Wonne auf den zusammengeschobenen Erdhügeln einsauten, mit Planen Hütten bauten oder auf den Straßen Ball spielten. Und die alles andere taten, als sich auf der fein säuberlich gezirkelten Eigentumsflächen ihrer Eltern aufzuhalten, die diese ja wahrscheinlich nur für sie angeschafft hatten.

Wir wussten keine Antwort und fuhren schnell nach Hause, in unsere Mietwohnung. Ich schaute direkt in den Spiegel. Gut, ich sah nicht gerade aus wie Jane Fonda auf Koks, aber auch nicht unglücklich und konnte auch noch keine Spur von den Schuldenfalten rund um die Augen und den Tilgungsplänen-Pickelchen auf Nase und Kinn entdecken, die ich gerade auf unserem Ausflug bei den Bewohnern des Schulden-Reservats erblickt hatte.

Ein paar Wochen lang war Ruhe und die Überweisungen an unseren Vermieter lösten sich ohne Gram von unserem Konto.

Dann bekam ich eine Email meines Freundes am helllichten Tag während der Arbeitszeit mit einem Link.

Betreff: »Guck mal ...«

Dahinter verbarg sich ein vier Jahre altes Haus, die fünfjährige Ehe eines Metzgerei-Inhaber-Paares, die jetzt vor dem Aus stand und unterm Strich ein hohe sechsstellige Summe.
12 Fotos zeigten hochauflösend hohe Decken, eine geschmackvolle Raumaufteilung, einen clever angelegten Garten, ein tolle Einbauküche und 180 Quadratmeter plus Ausbaureserven.

Das Einrichtungs-Umgestaltungs-und-Umzugsfieber stieg schnell auf den Zustand »akut« und am Abend begrüßte ich meinen Freund mit einem Besichtigungstermin in der darauffolgenden Woche.

15 Minuten vor dem verabredeten Termin fanden wir uns vor »Guck mal« in einer verkehrsberuhigten Straße im Erfinderviertel des Neubaugebietes wieder.

Der zukünftige Exmann (bereits ausgezogen) begrüßte uns an der Aluminiumhaustür, die zukünftige Exfrau (beabsichtigte nicht auszuziehen) saß durch eine Freundin verstärkt in der Küche und trank Latte Macchiato aus dem eingebauten Vollautomaten.

Die Atmosphäre war, vorsichtig ausgedrückt, beschissen und durchaus als Grundlage für eine anschließende Prügelei zwischen Ex-Eheleuten geeignet.

Er versuchte mit dem Fleischerei-Fachverkäuferin-des-Monats-Charme die Vorzüge des Hauses herauszustellen, die sie mit der Präzision eines Fallbeils zunichte machte.

Er: Die hohen Decken geben einem ein gutes Raumgefühl.
Sie: Sie sollten allerdings noch höher sein, aber mein Gatte und der Architekt haben bei der Planung nicht nur an dieser Stelle geschlampt.

Er: Hier im Abstellraum ist genügend Platz für das alltägliche Dies und Das.
Sie: Wie zum Beispiel für große Mengen Bierkästen und Weinflaschen-Leergut, nicht wahr Schatz?

Er: Der Riss im Putz über dem Fenstersturz ist nur oberflächlich und kann schnell verspachtelt werden.
Sie: Von wem denn? Etwa von der polnischen Kolonne, die hier an jeder Ecke gepfuscht hat?

Er: Die Heizung ist sehr ruhig und einfach zu bedienen.
Sie: Für den Winter sollten Sie sich ein paar warme Pullover und dicke Socken besorgen.

Im Laufe der Besichtigung klangen das Einrichtungsfieber und mein Dekorations-Wahn schnell ab. »Guck mal ...« verwandelte sich bereits bei Quadratmeter 97 zu »Vielen Dank, wir müssen echt los...«, aber wir hatten Angst vor den handwerklichen Fähigkeiten des Paares, das sich im Falle einer zu frühen Absage durch uns vielleicht beleidigt fühlen und in uns die Basis für frische Bratwurst sehen könnte. So quälten wir uns mit wächsernem Gesichtsausdruck noch durch die restlichen Zimmer. Immer begleitet durch den filmreifen Thesen-Antithesen-Dialog des Metzger-Paares.

Erst das entgeisterte (gemeinsame!) Nein der Schlächter, auf meine Frage, ob es denn hier im Ort einen Supermarkt mit einem großem Angebot für Veganer gäbe, gab uns einen Grund, »Guck mal...« und das Erfinderviertel unverrichteter Dinge und mit heiler Haut zu verlassen.

Zuhause blickte ich wieder in den Spiegel und sah eigentlich ganz gesund und glücklich aus. 
Eben so wie man aussieht, wenn man nach einer ordentlichen Krankheit wieder genesen ist.
Allerdings ist nächste Woche Elternabend. Aber die Aussicht auf Gespräche mit Mit-Dreißigern, die auf kleinen Holzstühlchen sitzen und über Immobilien reden, macht mich jetzt schon wieder ganz nervös.
Ich glaube, ich melde mich krank.