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»Meldungen aus München (3)« vorgetragen von Philipp Seidel
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Neulich habe ich mein erstes Erdbeben verpaßt. Eigentlich hat das Beben in Südtirol stattgefunden, aber auch in München haben die Wände gewackelt. Menschen sind erschreckt aus den Büros gelaufen und verstört auf den Straßen der Metropole herumgeirrt. Eine Szene wie im Horrorfilm, bei der nur noch das Auftreten Godzillas, King Kongs oder eines Dinosauriers gefehlt hat.
Und ich habe von alledem nichts mitbekommen. Dabei bin ich immer so aufmerksam. Wer verpaßt schon gerne erste Male? Die meisten ersten Male habe ich natürlich mitbekommen. Den Verlust des ersten Milchzahns, der bis heute zwischen allerlei sonstigem Tand in Mutters Kästchen mit der Aufschrift "Kinder" lagert. Der erste Schultag, der für einige Tage auch der letzte war, nachdem der gesamte Inhalt der Schultüte in kürzester Zeit den Weg in den Magen gefunden hatte. Der erste Kuß, von dem man nichts mitbekommen hat, weil unzählige Biere nötig waren, um den Mut aufzubringen, das Mädchen aus der Parallelklasse überhaupt anzusprechen. Lediglich der Handabdruck auf der Wange und die ehrfürchtigen Blicke der Mitschüler am nächsten Tag ließen darauf schließen, daß der Kuß stattgefunden haben muß.
Und nun das erste Erdbeben. Beziehungsweise auch nicht, weil ich es ja verpaßt habe. Es soll nur wenige Sekunden gedauert haben. Vermutlich habe ich im entscheidenden Moment niesen müssen. Oder ich habe gerade einen spannenden Film gesehen, bei dem ich so zittern mußte, daß meine Bewegungen parallel zum Erdbeben verliefen. Physiker sprechen hier wohl von Überlagerung, ich von Tragik.
Man muß sich das mal vorstellen: Ein harmloses Erdbeben hat stattgefunden, und ich war unachtsam. Wer weiß, wie das nächste wird? Ich bin zwar scharf wie Nachbars Lumpi auf ein Erdbeben, keinesfalls aber möchte ich, daß irgendwer daran Schaden nimmt. Auch soll mein Porzellan nicht aus dem Schrank fallen. Was ich brauche, ist ein Event-Erdbeben im Disney-Stil. Dabei sein, aber nicht in Gefahr kommen. Wie beim Verlust des ersten Milchzahns. Oder wie beim ersten Kuß, wenn man sich die Ohrfeige wegdenkt. Vielleicht muß man sich das ideale Erdbeben so vorstellen: wie ein Kuß ohne Ohrfeige. Der ideale Kuß hingegen sollte heiß sein wie die Wange nach einer Ohrfeige mit anschließendem Erdbeben. Wenn man dieses einem Mädchen im richtigen Moment sagt, wird es begeistert sein. Oder zuschlagen.