Lutz Kinkel

Berlina est insula

Francis, 23, ist der Proto-User der schönen neuen Digitalwelt. Er fläzt sich auf der samtbezogenen Sitzbank einer Berliner Milchbar, streicht sich die dunklen Strähnen hinter die gepiercten Ohren und klappt seinen Organizer auf. Auf dem Display sieht er die Headlines, die der elektronische Newsagent für ihn zusammengetragen hat:

Telekomaktien bei fünf Cent – jetzt kaufen!

Mutter hat heute 60.ten Geburtstag!

Schröder erhebt Steuer auf den Abdruck des Namens Schröder!

Al Qaida in Wilmersdorf eingerückt!

Da offensichtlich nichts Wichtiges passiert ist, tippt Francis mit der Fingerkuppe auf das Icon DVB-T und läßt das aktuelle Programm einlaufen: Schlammcatchen auf Beate Uhse-TV, Christiane zu Salms IQ-50-Quiz auf Neun Live, die Endlossoap "Bayern hat keinen Superstar" im WDR. Aus den Augenwinkeln kann er en passant beobachten, wie Gisele Bündchen und Liv Tyler auf seiner Samtbank immer näher rücken, weil sie mitgucken wollen. Zufrieden nippt Francis an seinem Ziegenmilch-Shake.

Noch ist Francis eine fiktionale Figur, aber es kann kein Zweifel daran bestehen, dass er eines Tages unter uns weilen wird. Schließlich führt die Landesmedienanstalt Berlin Brandenburg derzeit mit rumsfeldscher Entschlossenheit das digitale terrestrische Fernsehübertragung ein, kurz: DVB-T. Direkt betroffen sind 150.000 Haushalte, die weder Kabel- noch Satellitenempfang haben, sondern die gute alte Antenne benutzten. Diese Immernochgestrigen müssen auf DVB-T umrüsten (das heißt: sich einen Digitaldecoder kaufen), andernfalls bleibt von August (2004) an der Schirm schwarz. Insbesondere Familienväter, denen naturgemäß an einem unblutigen Zusammensein gelegen ist, werden Vorsorge betreiben.

Betroffen sind auch die Massen der Maybach-Besitzer, die es gewohnt sind, sich durch die Stadt chauffieren zu lassen, dabei den Screen aus der antilopenledergedengelten Multimedia-Konsole gleiten zu lassen und eine Folge "Bonanza" auf Kabel1 zu inhalieren. Nicht zuletzt müssen jene urbanen Spielkameraden umrüsten, die sich alsbald ein portables TV-Gerät für die Grillparty im Garten, ein Handy mit TV-Empfang oder auch einen Flatscreen zum Umhängen kaufen wollen. Wer nicht digital glotzen kann, kann gar nicht glotzen, so wollen es die Mediengötter und die Industrie.

Zumindest ein bisschen. 150.000 Haushalte und zwei Maybach-Besitzer sind für die Industrie noch kein Grund, Digitalboxen wie Gummibärchen auf den Markt zu werfen, was zur Folge hat, dass die Sortimentgröße noch ein wenig an DDR-Zeiten gemahnt. Außerdem hört die digitale Funkübertragung momentan schon ein paar Kilometer hinter Berlin wieder auf. Die anderen Bundesländer warten erstmal ab, wie das Berliner Experiment so gedeiht, bevor sie sich mit den Kabelnetzbetreiber anlegen, die um ihre Kunden fürchten und entsprechend säuerlich gestimmt sind.

Das "ÜberallFernsehen" ist eben noch ein "Da-und-dort-Fernsehen", Berlina est insula und die Reform ein wenig schneckisch. Doch was nicht ist, kann ja noch werden. In Francis Namen. Amen.

Diese Kolumne ist Teil von "Ich glotz TV (Teil I)".