10.04.08

Melanie Knapp

Clochette

In alten Geschichten gibt es Fußwärmer, die mit heißen Kohlen beheizt werden. Wie schön! Aber war deshalb wirklich alles besser? Natürlich nicht.

Meine Oma arbeitete als junge Frau in einer Gastwirtschaft. Einmal erzählte sie mir stolz, dass sie nach Schankschluss regelmäßig durch halb Nürnberg nach Hause gelaufen sei. Nachts zwischen ein Uhr und drei Uhr morgens also. Sie setzte ihrem Bericht ein überzeugtes »heute würde man das ja gar nicht mehr überleben« hinzu.

Erstaunlich! Wie kann eine Frau wie meine Oma, die in ihrem Leben wesentlich mehr Gewalt erleben musste als ich, zu solch einer maßlosen Fehleinschätzung kommen?

Auch das Urteil der Bahnhofsmission über die heutige Zeit lässt keine Feierstimmung aufkommen. Trotzdem freue ich mich, dass es in Erlangen nun eine Bahnhofsmission gibt. Sie wird dafür Sorge tragen, dass die Zahl der Toten beim Warten auf den Regionalverkehr wieder zurückgeht.

Im letzten Jahr war das aber auch trostlos. Erst der Endsiebziger in Eggolsheim, der die Einstellung des Busverkehrs in seine Heimatgemeinde nicht mitbekommen hatte und bei Minusgraden und geschlossener Wartehalle quasi gleich miteingestellt wurde. Dann die betagte Dame in Fürth/Unterfarrnbach, Gott habe sie selig, die nach mehrstündiger Wartezeit im stockdunklem Wartehäuschen einen Zusammenbruch erlitt. Dabei hatte die Bahn wirklich nichts anbrennen lassen. Der Hinweis auf den Schienenersatzverkehr hatte direkt über dem Kopf der Armen gehangen. Wegen der fehlenden Beleuchtung und der im Winter früh einsetzenden Dunkelheit hatte sie allerdings keine Chance gehabt, den Zettel zu entdecken.

Nun also möchte die Bahnhofsmission nicht nur Obdachlosen helfen, sondern auch älteren Menschen, die bei Verspätungen der Bahn oft völlig hilflos sind und einfach auf dem Bahnsteig erfrieren. Jüngere Menschen würden sich mir nichts dir nichts in ihr Auto setzen und die Standheizung anmachen. Die zeigen da einfach mehr Lebenswillen. Die setzen sich auch von vornherein eher in Züge, in denen sie auch willkommen sind, und nicht in Züge, deren offensichtliche Bestimmung ihre baldige Abschaffung ist - ein Prozess, bei dem Fahrgäste zwangsläufig nur stören können.

»Nur eine stillgelegte Strecke ist eine gute Strecke«, raunt man sich in den Fluren und Schluchten, den Gängen und Gebäuden der Deutschen Bahn zu, und meint damit nicht die »guten« Strecken, die von gut aussehenden Menschen befahren werden, denen von der Neigetechnik speiübel ist. Man meint damit die Strecken der geschlossenen Wartehallen und schalterlosen Häuschen, an denen man aussteigt und liest: »Das Linientaxi hätten Sie gestern bestellen müssen. Jetzt kommen Sie hier nie mehr weg.«

In diesem Fall kann man jetzt einfach daheim bleiben und den Ehrenamtlichen in der Bahnhofsmission helfen, finstere Sprüche zu kreieren. »Früher spielten die Kinder auf der Straße, heute wohnen sie dort«, lautet einer. Und auf einer gelb-blauen Postkarte lese ich: »Bei Ihnen ist alles in Ordnung? Gut. Dann kümmern wir uns eben um die anderen.«

»Weißt du, wie die Verkehrsbetriebe ihre Kunden firmenintern nennen?«, fragt mich ein bärtiger Mann, der sich über eine dampfende Kaffeetasse beugt. »AAA. Arm, alt, und Ausländer.« »Hm,« sage ich, beuge mich ebenfalls über eine Tasse Kaffee, spiele in Gedanken ein bisschen mit den drei ›A‹s und überlege, ob bei mir eigentlich alles in Ordnung ist. Ich erinnere mich an eine Begebenheit vor ca. zehn Jahren, als ich vom Pförtner eines ansässigen Krankenhauses gebeten wurde, einen Mann zur Bahnhofsmission zu begleiten. Am Bahnhof gähnende Leere, weit und breit keine Mission. Wohin also mit dem Mann? Ich möchte lieber nicht darüber sprechen. Ich finde es gut, dass es in Erlangen jetzt eine Bahnhofsmission gibt.

»Wissen Sie«, sagt die Frau in der gelb-blauen Jacke, die plötzlich sehr meiner verstorbenen Oma ähnelt. »Uns gibt es jetzt hier seit 50 Jahren. Aber so schlimm wie heute war es nie.«