03.10.06

Axel Scherm

Wer holt eigentlich den Kolumnisten vom Bahnhof ab?

Eine gute Freundin von mir arbeitet im Landratsamt einer kleinen fränkischen Gemeinde. Sie unterstützt manchmal die Arbeit Ihrer Kollegin, der Kulturbeauftragten jener Gemeinde, indem sie kleine Jobs übernimmt, wie beispielsweise das Chauffieren und/oder Bewirten auftretender Künstler. So geschehen an einem der letzten Wochenenden. Wladimir Kaminer, Kolumnist und Schriftsteller, war zu einer Lesung eingeladen und aus dem fernen Berlin mit dem Zug angereist. Er musste zum Veranstaltungsort gefahren, von dort wieder abgeholt und ins Hotel gebracht werden.

Herr Kaminer, den meine Freundin sehr verehrt, ist bestimmt äußerst mitteilsam und redselig, dachte sie so bei sich und versuchte sich in Konversation.
»Sie kommen direkt aus Berlin?«
»Ja« – so die Antwort des Redseligen.
»...und reisen danach weiter nach Köln« – bemühte sie sich, das Gespräch in Gang zu halten.
»Ja«, antwortete Wladimir.
Nein, sie konnte nicht wirklich zufrieden sein, mit dem Gesprächsverlauf. Ihr wurde etwas flau im Magen, während der Herr Kolumnist aus dem Fenster sah und das vorbeiziehende Frankenland auf sich wirken ließ.
»Warum halten sich Menschen eigentlich Ziegen?«, fragte er schließlich nach einer peinlich langen Pause, kurz nachdem sie eine Kleingartenkolonie passiert hatten. Ihr wurde noch flauer im Magen, hatte sie sich doch lediglich auf eine belanglose Plauderei eingestellt und nach dem fehlgeschlagenen Start damit abgefunden, dass es zu keinem weiteren Wortwechsel kommen würde. Jetzt aber waren kulturpsychologische Theorien über das Verhältnis der Generation »Handy« zu beinahe ausgestorbenen Nutztiergattungen im beginnenden einundzwanzigsten Jahrhundert gefordert (vielleicht noch unter besonderer Berücksichtigung einer fehlgeleiteten Schrebergärtnermentalität der großelterlichen Nachkriegsgeneration).
»Äääh, Milch. Vielleicht wegen der Milch. Ziegenmilch soll sehr gesund sein. Ja oder des Käses wegen...« bemühte sie pflichteifrig den Genitiv.
Ob diese Antwort Herrn Kaminer in irgendeiner Weise geboten erschien, war mangels Reaktion seinerseits nicht zu erkennen; sie musste sich mit dem Gedanken trösten, der Herr Kolumnist sammelt Stoff für seine nächste Kolumne und ihre Antwort wird (in welcher Form auch immer) in einer der nächsten Textveröffentlichungen verwurstet.

Beim Veranstaltungsort angekommen, trat eine Frau auf Wladimir und seine Begleiterin zu und fragte ohne erkennbares Schuldbewusstsein, ob die beiden nicht Karten »für den Kaminer« kaufen wollten, sie hätte da günstig zwei abzugeben. Meine Freundin riskierte aus den Augenwinkeln einen Blick auf ihren prominenten Gast und meinte gesehen zu haben, wie dieser ganz kurz in die Knie ging. Jedenfalls ließ ihn die Szene nicht ungerührt, denn sie bekam von ihm den Auftrag, sich bei der Frau nach den Gründen des Kartennotverkaufs zu erkundigen.
Ein treuloser Babysitter, so versicherte die Dame glaubhaft, verhinderte, dass sie und ihr Mann den Worten des Kolumnisten lauschen konnten.
Ich bin mir sicher, hätte meine Freundin nicht Herrn Kaminer betreuen müssen, sie hätte sich um das Baby der beiden gekümmert. Auch ersparte sie der Frau den Hinweis darauf, dass diese gerade dem Autor höchstpersönlich Eintrittskarten zu seiner eigenen Lesung angeboten hatte.

Die Veranstaltung war jedenfalls nicht ausverkauft, was der Herr Kolumnist damit zu begründeten versuchte, dass es sich ja wohl um eine eher kleine Gemeinde handelte. Ein einfaches »Ja, da haben Sie recht« hätte genügt, doch die in ihrer Ehre verletzte Kulturbeauftragte musste ihm unbedingt auseinandersetzen, dass es sich um eine der größten Gemeinden hier in der Gegend handelte. Wieder meinte meine Freundin bei dieser Antwort ein leichtes Nachgeben seiner Knie bemerkt zu haben.

Die Lesung selbst verlief dann eher unspektakulär, wenn man davon absieht, dass Herrn Kaminer die auf einem Obstteller angebotenen Pflaumen so sehr mundeten, dass er sie kurzerhand mit auf die Bühne nahm und während der Lesung verspeiste.
Immerhin – die Pflaumen stammten aus dem Garten meiner Freundin. Ob es daran lag, dass sie in dieser Nacht kaum Schlaf fand?

Diese Kolumne finden Sie auch in Axel Scherms Ende 2010 erschienenem Buch »AxeAge – Das Printlog zum Weblog«.