29.05.06

Axel Scherm

Ein Ausflug in den Hyperrealismus

Ja gut, man kann die Frage stellen, was es bringen soll, die exakte Kopie einer Fotografie anzufertigen, die nichts weltbewegendes darstellt – beispielsweise Kinder am Strand oder ein paar Freunde in belangloser Umgebung – gemalt mit Acrylfarben auf einer zwei mal drei Meter großen Leinwand, möglichst detailgenau, möglichst realistisch, fotorealistisch, hyperrealistisch. Das kann man fragen.
Man kann auch fragen, ob es sich lohnt, fast 500 Kilometer mit dem Auto zu fahren, um eine Ausstellung zu besuchen, in der solch gigantische Bilder gezeigt werden. Wir – meine Frau und ich – haben es jedenfalls getan. Am letzten Wochenende, früh um 8:00 Uhr Abfahrt in Nürnberg und kurz vor 13:00 Uhr Ankunft in Aachen: Franz Gertsch Retrospektive im Ludwig Forum für internationale Kunst.

Um es vorweg zu nehmen und allen süffisanten Fragestellern zu antworten: es hat sich nicht nur gelohnt, es war einfach großartig. Es gibt definitiv keine Worte, die hinreichend beschreiben würden, was man empfindet, wenn man vor solch einem Riesenbild steht. Jeder Blickwinkel, jede Entfernung zum Bild, jeder Bildausschnitt, jede Lichtveränderung gibt ein anderes Detail, um nicht zu sagen, eine neue Dimension frei, egal, ob das Bild Gesichter, Gegenstände oder Gräser dargestellt. Es ist gigantisch und es ist unglaublich.

Foto: Franz Gertsch Retrospektive

Foto von Axel Scherm

Weil wir keine Lust hatten, die lange Strecke gleich wieder nach Hause zurück zu fahren, hatte ich im Vorfeld über einen Internetservice ein Hotelzimmer gebucht. Das Hotel war ein ziemlich hässlicher Klotz mit viel Waschbeton außen und dunklem Holzimitat innen. Aber es war sauber (hätte meine Mutter gesagt), nicht teuer und sollte ja nur für eine Nacht unser müdes Haupt betten. Vorher wollten wir noch etwas in der Stadt essen. Mir war nach Asia-Food und weil ein einladender China-Imbiss mitten in der Fußgängerzone nicht nur europäische, sondern auch fernöstlich anmutende Gäste beherbergte und die Speisekarte vielversprechend war, traten wir ein und besetzten einen Zweimanntisch.
Am Nebentisch fand sich ein Paar ein, etwa in unserem Alter, zu dessen Füßen ein Rauhaardackel Platz nahm, dessen Augenaufschlag dem Ausdruck »Hundeblick« alle Ehre machte. Die Frau fragte nach einem Schälchen Wasser. Das brachte den Wirt in leichte Bedrängnis, weil er offensichtlich kein Schälchen besaß, das für einen solchen Zweck vorgesehen gewesen wäre. Also schlürfte der Hund sein Wasser aus einem Napf, der den Reisschalen, die allenthalben auf den Tischen standen, nicht ganz unähnlich war. Das Herrchen indes fütterte den immer treuherziger dreinblickenden Dackel, mit Fleisch von seinem Teller.
Meine Frau und ich hatten bereits gegessen und beobachteten deshalb satt und interessiert die Fütter- und Essszene am Nebentisch. Nachdem Herrchen wiederholt dem Hund verstohlen ein Fleischbröckchen zugeworfen hatte, konnte ich nicht umhin zu fragen, ob das Fleisch nicht vielleicht etwas zu scharf sei für Klein-Dackel. Das gestand Herrchen gerne ein, doch das Tierchen hätte in den letzten Wochen und Monaten krankheitsbedingt so viel zu leiden gehabt, dass jetzt ein paar raffiniert gewürzte Fleischbröckchen sicher nichts schaden konnten.
Was denn mit Klein-Dackel nicht in Ordnung gewesen wäre, wollte ich wissen und hatte den Eindruck, sowohl der Wirt, als auch die an zahlreichen Tischen versammelten Gastasiaten starrten so begehrlich auf den kleinen Vierbeiner, als hätten sie ihn bereits seines Rauhaares beraubt, in sauer-scharfer Soße geschmort auf einem Reisbett angerichtet vor sich liegen.
Herrchen jedenfalls unterbrach sein Essen und erklärte mir mit sichtlicher Anstrengung, die das scharfe Fleisch in seiner Kehle verursachte, dass sich Klein-Dackel nach einer Futterunverträglichkeit einen perforierten Enddarm zugezogen hätte. Bei der folgenden Beschreibung des Krankheitsverlaufs ließ er keine noch so ekelhafte Einzelheit aus, während seine Frau Chop Suey aß, Klein-Dackel sich scheu umblickte und die Asiaten sich angewidert abwandten.

Am nächsten Morgen, nach einem Frühstück, das diesen Namen nicht verdiente, vielleicht deshalb, weil es nur dreizehn Euro pro Person zusätzlich gekostet hatte, traten wir die Heimreise an. Nach etwa einer Stunde ermüdender Autobahnfahrt überholte ich einen offensichtlich überladenen Kombi. Der Grund, warum der hintere Teil des betagten Autos kaum noch Bodenfreiheit hatte, bestand darin, dass im Kofferraum zwei ausgewachsene Ziegen standen. Meine Frau und ich malten uns gerade den Geruch aus, der in diesem Wagen herrschen musste, während der Fahrer des Wagens leicht verlegen grinste, als wir beim Überholen nicht den Blick von ihm und seiner Ladung wenden konnten.
Bei einem Tankstopp und einer Tasse Kaffe an einer Autobahnraststätte, wurde unsere Aufmerksamkeit auf einige Bilder an der Wand des Restaurants gelenkt, die zum Verkauf angeboten wurden. Eine Mischung aus Salvadore Dali und naiver Bauernmalerei in ausladenden Holzrahmen, an denen sich ein Laubsäger mit offensichtlich expressionistischen Ambitionen vergangen hatte. Höhepunkt war ein Triptychon, das mit 370,-- EURO allerdings nicht gerade zu den Schnäppchen dieser Vernissage zählte.
Wieder auf der Autobahn überholten wir erneut den Ziegenkombi. Wir konnten es nicht glauben: im Kofferraum standen jetzt vier Ziegen. Zwei hatten sich beim ersten Überholen wahrscheinlich unseren Blicken entzogen, weil sie schlafend am Boden gelegen hatten. Gestank, Gewicht, Geschwindigkeit. Ich hatte Mühe, den Viehtransport zu überholen.

Foto: Im Rahmen eines kulturellen Rahmenprogramms

Foto von Axel Scherm

Nach fast fünf Stunden Fahrt hatten wir wieder fränkischen Boden unter den Füßen. Ein befreundetes Ehepaar aus Nürnberg hatte uns zum Essen eingeladen und weil wir etwas früh dran waren, beschlossen wir eine Stadtbegehung zu machen. Immerhin hatte es der bekannte Aktionskünstler Olaf Metzel gewagt, mit 1000 ausgedienten Sitzen aus dem Berliner Olympia-Stadion den schönen Brunnen auf dem Hauptmarkt zu verhüllen. Das Ganze im Rahmen eines kulturellen Rahmenprogramms zur Fußball WM mit Genehmigung der obersten Nürnberger Kulturbehörde. Man kann sich vorstellen, welchen Aufschrei diese Aktion im gesunden Volkskörper ausgelöst hat.

Um diesen Aufschrei vor Ort zu vernehmen sind wir also über den an diesem Sonntag stattfindenden italienischen Markt lustgewandelt, beobachteten auf der guten alten Pegnitz original venezianische Gondeln mit japanischen Touristen, die von handytelefonierenden Gondolieres durch die Innenstadt geschippert wurden und standen endlich vor dem aus Presse, Funk und Fernsehen bekannten und vielgeschmähten Kunstwerk.

Nun, man kann von diesem Stuhlmonstrum halten, was man will (besagtes Triptychon in der Autobahnraststätte ist künstlerisch sicher höher einzustufen), aber allein dadurch in den Genuss zu kommen, den Kommentaren zu lauschen der Kunstbeflissenen einerseits und derjenigen, die dem Künstler am liebsten sämtliche Bürgerrechte entziehen oder noch ganz andere Dinge mit ihm anstellen würden andererseits, ist dieses Werk allemal gerechtfertigt. Realsatire pur – sämtliche Dialoge hätten original aus einem Stück von Fitzgerald Kusz stammen können. Wir waren hin- und hergerissen und hätten beim Lauschen fast unseren Einladungstermin verschwitzt.
Wäre schade gewesen. Unsere Freunde kochen sehr gut. Und die Essgewohnheiten der kleinen Tochter sind durchaus erwähnenswert.
Aber davon vielleicht demnächst mehr in einer eigenen Kolumne.

Diese Kolumne finden Sie auch in Axel Scherms Ende 2010 erschienenem Buch »AxeAge – Das Printlog zum Weblog«.