This column's translation: »Pain«

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»Schmerz« vorgetragen von Matthias Keller
(Bitte beachten Sie unseren Rechtevorbehalt).

08.11.05

Katrin Wiegand

Schmerz

An dem Tag, als wir Deine Diagnose bekamen, kam er zu mir.
Schmerz kam, wie unliebsame Gäste das nun mal tun: uneingeladen, unangemeldet und mit viel Gepäck. Mir war klar, den würde ich so schnell nicht los! Dabei hatte mich niemand gefragt! Und er schlich sich nicht bescheiden und still durch die Hintertür, nein, seine Ankunft war ein Ereignis. Hilflos musste ich mit ansehen, wie er das beste Zimmer im Haus bezog, die Möbel umstellte, sich überall ausbreitete und mich völlig in Beschlag nahm.
Anfangs waren auch seine Kumpels ständig da: Verzweiflung, Wut, Angst, Trauer.. er hat einen großen Freundeskreis. Ständig lungerten die bei mir herum, tranken meinen Kühlschrank leer und fraßen mir die Haare vom Kopf.

Als Deine Werte besser wurden, wurden ihre Besuche seltener. Der Spaß war ihnen vergangen. Wenn sie vorbeikamen, feierten sie keine Gelage mehr, sondern hingen mit einer halben Tüte Chips vor dem Fernseher und zappten sich durch die Programme. Trotzdem: wenn sie gingen, schauten sie mich immer so durchdringend an. Der Blick sagte: Du bist uns nicht los. Wir beobachten dich. Die große Party wird stattfinden, du weißt es, wir wissen es. Und du kannst nichts dagegen tun.
Schmerz richtete sich ein. Er sammelte nach und nach die im Haus verstreuten Sachen ein, und so gut es ging, drängte ich ihn in ein Eckchen zurück. Aber er zog nicht aus. Hoffnung hätte ihn vertreiben können, die hat ihre eigenen Mittel, da hätte er genervt das Handtuch geworfen und sich verdrückt. Aber Deine Diagnose ließ für Hoffnung keinen Platz, also machte sie sich gar nicht erst die Mühe. Ich hätte ihr das Bahnticket bezahlt. Sogar ein Taxi. Ich hätte sie von mir aus huckepack vom Bahnhof abgeholt, aber sie trieb sich lieber bei anderen Leuten herum. So blieb Schmerz in seiner Ecke hocken, las blöde Groschenromane und hörte immerhin keine laute Musik mehr. Wir arrangierten uns. Ich versuchte, einen großen Bogen um ihn zu machen. Oft vergaß ich sogar, dass er überhaupt da war. Wir liefen uns nicht mehr so häufig über den Weg. Seine Kumpels kamen nach wie vor vorbei, aber ihre Besuche waren seltener. Sie kamen einzeln, und manchmal gelang es mir sogar, sie an der Tür abzuwimmeln.

Sechs Jahre lief das so. Mit der Situation hatte ich mich arrangiert, mit dieser unfreiwilligen WG hätte ich es noch ziemlich lange aushalten können, aber ich wurde wieder nicht gefragt. Deine Werte wurden schlechter. Dein Zustand auch. Je schwächer Du wurdest, um so stärker wurde er. Ich hörte ihn wieder Möbel rücken. Plötzlich hingen da seine Heavy-Metal-Poster im Flur. Zuerst hab ich sie noch abgehängt, hab sie weggeworfen und seine Regale wieder in sein Eckchen zurückgeschleppt. Er wusste genau, dass ich das nicht lange durchhalten würde. Er hatte Recht. Dir Hoffnung vorzuspielen, wo ich selbst doch nichts mehr von ihr gehört hatte, kostete zuviel Kraft. Irgendwann saß ich nur noch auf dem Boden und sah teilnahmslos zu, wie er wieder das halbe Haus in Beschlag nahm. Seine Kumpels kamen häufiger, eigentlich drückten sie sich gegenseitig die Klinke in die Hand. Wenn sie die Stereoanlage aufdrehten, zog ich mir ein Kissen über den Kopf.

Die letzte Woche Deines Lebens verbrachtest Du im Krankenhaus. Mein Haus gehörte nur noch auf dem Klingelschild mir. Mein ungebetener Besuch und seine Freunde hatten die Herrschaft an sich gerissen. Es gab kein Eckchen mehr ohne sie für mich, und wenn ich sie mal kurz aus den Augen verloren hatte, knallten sie mit den Türen oder brüllten sich durchs ganze Haus an.
Dann kam der Morgen, der Dein letzter war. Als Du aufhörtest zu atmen, fingen sie an zu lärmen und zu toben. Das also stellten die sich unter einer tollen Party vor. Sie zerrten alle an mir. Ich habe Wut angeschrien und mit Trauer geheult, hab mich mit Angst unterm Bett versteckt und bin mit Verzweiflung in den See gesprungen. Und Schmerz? Der hat gelacht, mich so fest gepackt, dass ich blaue Flecke davon bekam und hat mich durchgeschüttelt. Und alles gleichzeitig.

Das ist jetzt vier Wochen her. Die Party ist schon lange vorbei. Die gröbsten Überreste sind beseitigt. Vieles ist zu Bruch gegangen, verstreute Scherben überall. Manches kann man wieder kleben. Der Kleber heißt Zeit. Und ist ziemlich teuer.
Trauer hatte sich einen Spaß daraus gemacht, die Lampen kaputtzuwerfen. Nach und nach kaufe ich jetzt neue Glühbirnen, damit es wieder heller wird. Die blauen Flecke verblassen langsam.

Schmerz wird wohl bleiben. Seine Poster hat er abgehängt, seit ich häufiger Besuch bekomme. Erinnerung war schon ein paarmal da, und wir haben alte Fotoalben zusammen angeschaut. Schmerz hat uns über die Schulter gesehen, und Trauer hat im Fernsehprogramm geblättert. Aber sie sind stiller geworden. Mein Platz im Haus wird wieder größer, Schmerz hat schon einige Regale zum Sperrmüll gestellt. Er wird wohl irgendwann in den Keller umziehen, und mit einem separaten Eingang laufen wir uns dann nur noch selten über den Weg. Aber er bleibt.
Er weiß es, und ich weiß es.
Ich wünschte, Du hättest bleiben können.
Aber ich wurde ja nicht gefragt.