16.04.06

Stefan Schrahe

Post-Modern

Es ist heutzutage viel angenehmer als früher, zur Post zu gehen. Zwar ist nicht alles besser geworden: Mancherorts gibt es gar keine Postfiliale mehr, man muss mitunter ganz schön weit fahren oder findet nur noch so genannte Post-Agenturen, die neben Briefmarken auch Brötchen und Zeitungen verkaufen oder gar DVDs verleihen. Da kann es schon mal – wie letztens unterwegs – passieren, dass der hauptberufliche Videoverleiher und Hilfspostler mir eine Minder-Frankierung unterstellt, weil er partout nicht glauben will, Irland sei Teil der EU – da es sich, so seine Argumentation, bei diesem Land schließlich um eine Insel handele.

Aber das kümmert mich nicht. Ich habe das große Glück, in fußläufiger Nähe zu einer richtig ausgewachsenen Postfiliale zu wohnen. Die ist nicht nur durchgehend geöffnet – von acht bis sechs – sondern hat drei Schalter, außerdem einen großen Büroartikelbereich, wo man Taschenrechner, Klebestifte oder Druckerpapier kaufen und zwei Glaskästen, in denen man in Bankgeschäften beraten werden kann – allerdings nur gegen Voranmeldung. Schön ist, dass das leidige Gefühl von früher, immer in der falschen Reihe zu stehen, entfällt. Ich kann mich erinnern, oft bei der vermeintlich kürzeren Schlange angestanden, dann aber mit Sicherheit einen Postkunden vor mir gehabt zu haben, der entweder einen Post-Suchauftrag loswerden, ein Postscheckkonto eröffnen oder eine Massensendung frankieren wollte. Heute wird in meiner Postfiliale der Erste in der Diskretionsschlange stets vom gerade frei gewordenen Post-Mitarbeiter zu sich gerufen. So hat man nie das Gefühl, benachteiligt zu sein – und wo gibt es das heute schon?

Es sind aber auch die Menschen, die sich verändert haben. Selbst im Rheinland gehört der bärbeißige, schlecht angezogene – meist in verschieden changierenden Grautönen – und noch viel schlechter gelaunte Postbeamte der Vergangenheit an. Die Post-Mitarbeiter von heute tragen dunkles Blau und frisches Gelb und das Grau ihrer Gesichter ist einem rosig-rötlichen Ton gewichen. Vor allem aber ihre Freundlichkeit ist heute wie von einem andern Stern und deswegen gehe ich gerne hin und erledige nur das am heimischen PC oder am Automaten, was sich außerhalb der Öffnungszeiten abspielt.

»Kennen Sie schon die Vorteile unseres Girokontos?« hatte mich neulich die etwas füllige Dame mit der auffällig modischen, schwarz-gerahmten Brille und den hennarot gefärbten Haaren gefragt, als ich meine zwei Briefe zu 1,45 € von ihr frankieren ließ.

»Natürlich«, hatte ich geantwortet. »Ich habe ja schon eins.«

Sie nahm es mit Fassung und ich vermochte ihrem Minenspiel nicht zu entnehmen, ob sie unglücklich war, nach dieser Antwort keine Möglichkeit mehr zu haben, die zahlreichen Vorteile eines Postbank-Girokontos zu erläutern. Zumal sie deswegen wahrscheinlich eigens ein Seminar besucht hatte. Oder besucht haben musste.

Dabei habe ich gar kein Konto bei der Postbank. Früher hätte ich das auch zugegeben. Hätte mich in ein Gespräch ziehen lassen und womöglich ernsthaft den – vorher nie erwogenen – Wechsel meines Girokontos in Betracht gezogen. Genauso, wie ich in den Besitz mehrerer Kreditkartenverträge, Zeitschriftenabonnements, Fitnessstudio-Mitgliedschaften und Handyverträge gekommen war. Und mich einmal sogar fast bei der Scientology-Church verpflichtet hätte. Aber seit einiger Zeit habe ich alles immer schon. Und bin schon überall dabei. Sage ich wenigstens.

So hatte ich beim nächsten Post-Besuch, bei dem ich Briefumschläge für 2,29 € erstand, auch angegeben, den mir angebotenen günstigen Postbank-Strom für zu Hause bereits beantragt zu haben. Beim darauf folgenden Besuch wegen des Erwerbs von Versandtaschen für 2,99 € bejahte ich auch die Frage nach einer Postbank-Lebensversicherung. Hätte ich gerade abgeschlossen. Ob ich denn bereits einen Faber-Systemlottoschein hätte, wurde ich wenig später gefragt, als ich ein Einschreiben abholte. Ich nickte und zeigte mich sehr zufrieden damit. Ebenso wie mit dem Postbank-Sofortkredit, den man mir mittels eines kleinen Faltblättchens anbot, als ich ein neues Briefmarken-Heft kaufen wollte. »Brauche ich nicht, habe ich schon«, war der Satz, mit dem ich jeden Besuch in meiner Post-Filiale beendete.

Bald aber hatte ich das Gefühl, dass sich Misstrauen breit machte. Selbstverständlich sei ich schon im Besitz einer Autobahn-Vignette für die Schweiz, hatte ich gesagt, als ich für meine Frau ein Paket wegbrachte. Aber man schien mir nicht mehr recht zu glauben.

Dann habe ich den Spieß umgedreht. Beim Abgeben meines Urlaub-Nachsende-Antrags fragte mich der hagere Mittfünfziger, mit dem ich schon öfter zu tun hatte, ob ich schon im Besitz des neuen Klingelton-Abonnements der Deutschen Post sei.

»Natürlich«, antwortete ich, griff aber dieses Mal in die Innentasche meiner Jacke. Ob er denn schon im Besitz meines jüngst erschienenen Kolumnen-Buches sei, wollte ich von ihm wissen und hielt ihm das Werk über den Tresen.

Wir schauten uns beide eine kurze Weile tief in die Augen.

»Selbstverständlich«, antwortete er schließlich. Das war's.

Seitdem werde ich in der Post nur noch gefragt, ob ich eine Quittung brauche.