Diese Kolumne lässt sich auch hören!

»Nachdenken über existentielle Fragen
Teil IV: Wahrnehmung und Sprache« vorgetragen von Melanie Knapp
(Bitte beachten Sie unseren Rechtevorbehalt).

01.10.05

Melanie Knapp

Nachdenken über existentielle Fragen
Teil IV: Wahrnehmung und Sprache

Was mache ich, wenn ich mich in meinem Zimmer mit einer Lupe in der Hand über den Fußboden beuge und angestrengt gucke? Richtig! Puzzeln.

Die boden- und krautschichtbewohnenden Kleinlebewesen in meinem Zimmer freuen sich, denn wegen der überall herumliegenden Puzzleteile ist an Staubsaugen nicht mehr zu denken. Andere Kleinlebewesen wundern sich. »Wieso puzzelst du mit einer Lupe?« fragt meine achtjährige Mitbewohnerin. »Weil die Ortsnamen auf der Vorlage so klein geschrieben sind, dass ich sie mit bloßem Auge nicht entziffern kann.« Das stimmt. Auch mit der Lupe kann ich nicht mit Sicherheit sagen, ob die Ortschaft zwischen Wollerau, Hütten und Menzing Samstager oder Samstagen heißt. »Samstegern« liest die vorlaute Motte, dabei wusste ich gar nicht, dass sie schon lesen kann. Eine Lupe braucht sie auch nicht. Wie unterschiedlich doch die Qualität der Sinneswahrnehmungen unterschiedlicher Menschen ist. In der Uni beschwerte sich eine Mitstudentin regelmäßig über zu weißes Papier. Das würde ihr in den Augen schmerzen, weil diese leider über 120% Sehkraft verfügten. Dumm gelaufen. Ob die Besitzer solcher Augen gleichzeitig über eine Weißwahrnehmung wie die der Inuit verfügen? Die sollen ja bis zu zehn verschiedene Weißtöne unterscheiden können. Und über allerhand verschiedene Begriffe für »weiß« verfügen. Kalkweiß, antikweiß, schmutzigweiß, persilweiß, »atlasweiß« weiß das Synonymlexikon, aber diese provisorisch konstruierten Baukastenwörter zaubern noch keine unterschiedlichen Weißtöne in den Kopf. Anders bei den Inuit. Wo Begriffe eine genaue Differenzierung ermöglichen, kann auch differenziert wahrgenommen werden, lautet eine These. Interessant ist auch der Umkehrschluss. Begrenzt Sprache wirklich die Wahrnehmung?

Diese Argumentation erscheint mir nicht ganz lupenrein. Meine achtjährige Mitbewohnerin kann mindestens zehn Sorten Klopapier allein am Grad der Kratzigkeit unterscheiden, aber neben »weich« und »tut weh« verfügt sie über keinerlei Ausdrucksmöglichkeiten für die gefühlten Oberflächenbeschaffenheiten. Ob sie ahnt, dass es in der Schweiz fünf-lagiges Kaschmir-Klopapier gibt? Soft Deluxe Papierli zum Posten. Ich weiß so was, denn ich nehme die Schweiz täglich unter die Lupe. Als 1500-Teile Puzzle. Ich puzzle Seen und Gipfel zusammen und höre Radio. Im »Ratgeber Gesundheit« ruft eine Frau an, deren Geruchswahrnehmung durch längere Antibiotika-Einnahme extrem gesteigert wurde. Sämtliche Gerüche verursachen ihr körperliche Schmerzen. Ihr Alltag ist massiv beeinträchtigt. Blumen, Obst, Waldspaziergänge – ein Albtraum. Im Haushalt lauert das parfümierte Klopapier, sogar die Druckerschwärze schmerzt.

Während ich puzzle und kaum etwas entziffern kann, untersucht die halbwüchsige Klopapierexpertin den Fußboden mit der Lupe. Was sie wohl sieht? Boden- und Krautschichtbewohnende Kleinstlebewesen? Holzwurmspuren und Milbenaggregationen?

Sie hat in ihrem Leben schon sehr viel Antibiotika bekommen.