20.12.06

Wilhelm Ruprecht Frieling

Die Jagd auf den Dicken
(Briefe aus Palma, VI)

Kehlig kräht eine Stimme am Ende der pulsierenden Calle Sindicato in der Einkaufszone von Palma de Mallorca. »Billettes, billeeeettes, billeeeeeeettes!« Die heiseren Schreie zerschneiden das Gemurmel der Passanten, das Geschnatter der Handys, das Geschrei kleiner Kinder, den Gesang der Straßenmusikanten, das Getöse aus den Läden und Boutiquen und das Gehämmer der Pressluftbohrer. Wie scharfer Stahl trennt die Stimme den Teppich aus Menschen- und Maschinenlärm und fräst sich in die Gehörgänge.

Die Krächzstimme lehnt an einer Häuserwand. Sie entpuppt sich als ein Schwerbehinderter mit einem kleinen Bauchladen. Der Mann hält den Fußgängern bunt bedrucktes Papier entgegen und ruft dazu unentwegt im durchdringenden Diskant: »Billettes, billeeeettes, billeeeeeeettes!« Er ist einer von vielen hundert behinderten Losverkäufer, die mit dem Vertrieb von Anteilsscheinen der staatlichen Lotterie ihren kümmerlichen Lebensunterhalt bestreiten. Die Stadt ermöglicht ihm damit einen Zusatzverdienst und stärkt seinen sozialen Status.

Der Krähenmann muss nicht lange rufen. Schon treten Kunden an ihn heran, wechseln ein paar Worte, erwerben eine »papeleta«, eine Beteiligung, zahlen und gehen weiter. Touristen schauen dem Treiben verständnislos zu. Sie rätseln, worum es bei dem geheimnisvollen Handel wohl gehen mag.

Ab August wird ganz Spanien regelmäßig vom Lotteriefieber erfasst. Auch die Mallorquiner verfallen dem Taumel, der sich schnell zum Hitzesturm steigert und erst am 22. Dezember in einer dreistündigen Ziehung kulminiert. In Kneipen und Bars, auf Straßen und Plätzen gibt es bis dahin kaum ein anderes Thema als die Jagd auf »El Gordo«, den »Dicken«. Todsichere Tipps und kühne Kombinationen werden unter dem Siegel der Verschwiegenheit gehandelt. Anteile mit besonders beliebten Losnummern wandern schwarz von Hand zu Hand. Jeder hofft inbrünstig, »den Dicken« zu gewinnen und damit einen Diamanten aus dem Diadem der Königin aller Lotterieziehungen zu bekommen.

Während in Deutschland der fetteste Jackpot der Lotto-Geschichte in Höhe von 37 Millionen die Tipper bereits um den Verstand brachte, spielt die spanische Lotterie vollkommen andere Größenordnungen aus. Mehr als zwei Milliarden Euro werden jährlich ausgekehrt! Aufgrund des raffinierten Systems sind es häufig Wohnviertel und ganze Dörfer, über die sich aus Fortunas Füllhorn ein goldener Regen ergießt.

»Weihnachtslotterie« (Sorteo de Navidad) heißt die seit bald zweihundert Jahren bestehende Ausspielung, bei der mehr als zwei Milliarden Euro steuerfrei ins Land zurück fließen. Zweitausend Millionen Euro sind für normal Sterbliche eine unfassbare Geldmenge. Diese selbst einen Dagobert Duck beeindruckende Summe wird nach einem komplizierten Verfahren aufgeteilt, und wer dies System einmal verstanden hat, spielt jedes Jahr begeistert an der größten und ältesten Lotterie der Welt mit.

Der Verkäufer mit der durchdringenden Stimme erklärt das System: Verkauft werden Lose mit fünfstelligen Nummern. 85.000 verschiedene Nummern gibt es in diesem Jahr. Diese wurden in 180 Serien hergestellt. Dies bedeutet, dass jede der Zahlen 180-mal existiert. Jedes Los ist weiter in Zehntel unterteilt, das ist die übliche Handelsform der Billetes. Ein Zehntel, der Dècimo, kostet zwanzig Euro, ein komplettes Los entsprechend mehr. Auch diese Zehntel können noch weiter bis in jeweils zwanzig Teile gestückelt werden, die beispielsweise in Bars mit dem Wechselgeld als Kundengeschenk ausgegeben werden.

Das Geheimnis der Lotterie ist, wie bei jedem Zahlenspiel, die richtige Ziffernfolge zu treffen. Hier schwört jeder Spanier auf seine persönliche Mischung von Serien und Fraktionen und müht sich, Lose mit seinen Zahlen zu bekommen. Das aber ist höllisch schwer, denn die Lose werden über das ganze Land verteilt und oft von Unternehmen, Bars und Losverkäufern zum Weitervertrieb abgenommen. Dies führt wiederum dazu, dass diese Verkaufsstellen sehr viele Zehntel derselben Nummer verkaufen und der Gewinn entsprechend eng gestreut wird. Häufig empfangen deshalb Armenviertel oder komplette Straßenzüge den gewaltigen Geldregen. Das macht die Lotterie volkstümlich und bei der gesamten Bevölkerung ausgesprochen beliebt.

Ganz oben in der Publikumsgunst thront »El Gordo«. So heißt der fette Hauptpreis, der auf alle 180 Lose der gezogenen Glücksnummer entfällt. Drei Millionen Euro entfallen auf jedes dieser Lose, und natürlich hegen viele die berechtigte Hoffnung, den »Dicken« einzustreichen. Mallorca gilt als Glückskind der Weihnachtslotterie und wurde bereits mehrfach mit Hauptgewinnen beglückt. Ein Geldregen von 30 Millionen ging über dem Ferienort Cala Ratjada nieder. Gewinner waren Hotelangestellte, Kellner und Eltern einer Grundschule, die Lose zur Finanzierung einer Klassenreise gekauft hatten.

Die nationale Jagd auf den »Dicken« endet am 22. Dezember. An diesem Tag wird jeder, der vormittags über die Straßen läuft, fassungslos beäugt. Es können nur Fremde sein, denn die Einheimischen hocken vor Fernsehern und Radiogeräten. Gebannt verfolgen sie die auf allen Kanälen life übertragene dreistündige Ziehung aus dem Hauptsaal der Lotteriegesellschaft. In einer riesigen Metalltrommel befinden sich 85.000 nummerierte Holzkugeln, das entspricht der Menge der verausgabten Lose. In einer zweiten Trommel rotieren Kugeln für die Gewinnstufen. Über 1.500 einzelne Losnummern und Gewinnstufen werden gezogen. Kurios wirkt, dass die Gewinnzahlen anschließend von Kindern mit monotoner Stimme gesungen werden.

Dann explodiert die Fieberblase: Zum Höhepunkt der Veranstaltung wird »El Gordo« gezogen, und das bedeutet, dass 180 Billetes mit der entsprechenden Gewinnnummer mit jeweils drei Millionen überschüttet werden. Jeder, der ein Zehntel mit den richtigen Ziffern besitzt, ist damit um 300.000 Euro reicher. Gleich drauf knallen in den vom Glück begünstigten Dörfern und Barrios die Sektkorken. Der Cava perlt, die Menschen tanzen in den Straßen und liegen sich in den Armen. Spanien rückt ein kleines Stück näher zusammen, und jeder träumt, in eine andere gesellschaftliche Klasse aufsteigen oder einen großen Wunsch verwirklichen zu können.

Der Losverkäufer mit der markanten Stimme sitzt an diesem Tag wie alle anderen vor der Röhre und lauscht den Gewinnzahlen. Er empfindet sich als direkter Abgesandter der Glücksgöttin, denn mehrfach konnte eines seiner Lose dazu beitragen, Menschen froh zu machen.